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Samstag, 24. August 2013

Inside - Unser Neuanfang in Berlin, Teil 2

Kapitel 16

Der nächste Tag ist ein Samstag.
Eigentlich würde ich gerne noch weiter kuscheln, aber Martha ist erbarmungslos mit mir.
„Weißt du, was für eine Schweinerei wir in der Küche veranstaltet haben? Und Denise und Sascha kommen doch gleich wie immer zum Frühstück.“
Seufzend werfe ich die warme Decke beiseite und weiß, es hat keinen Sinn, Martha mit sanfter Gewalt überreden zu wollen.
Bei Tageslicht betrachtet sieht unsere Küche schon echt heftig aus.
Wenigstens haben wir daran gedacht, die Butter wieder in den Kühlschrank zu räumen.
Ich habe gerade erst die Verpackungen von Nüssen, Marzipan und so weiter eingesammelt und die dreckigen Schüsseln in die Spüle geräumt, als Sascha in der Tür steht.
„Was ist denn hier passiert?“, lacht er.
„Martha und ich haben Plätzchen gebacken.“
„Ach so.“, lacht er weiter. „Auf dem Fußboden?“
Ich muß da nicht hinsehen, um zu wissen, daß der Boden voller Mehl und diverser anderer Backzutaten ist.
„Eigentlich überall.“, meine ich.
„Laß mich raten … du hast nicht nur an den Plätzchen genascht.“
Ich lecke mir die Lippen und grinse Sascha an.
„Er stand auf einmal nur mit ‚ner Schürze bekleidet vor mir.“ Martha verdreht die Augen.
„Und das hat dir nicht gefallen?“
Martha kann sich das Grinsen nicht verkneifen. „Na ja …“
„Du hast Juri doch genauso vernascht wie er dich, da wette ich drauf.“
„Also ich wette nicht dagegen.“, lacht auch Denise, die uns von der Tür aus beobachtet.
„Na ja, er war eben sehr süß, so vollgekleckert mit Schokolade.“ Martha grinst inzwischen sehr breit.
„Na komm, du Süßer, laß uns aufräumen.“ Ich werfe Sascha einen gespielt-bösen Blick zu, dann lachen wir beide.
Und im Nu kann niemand mehr erraten, was hier gestern Abend getrieben wurde.
Beim Adventskaffee am nächsten Nachmittag lobt Finchen unsere Backkünste.
Wir grinsen uns alle an, sagen aber nix, um sie nicht aufzustacheln.
„Nicht, daß die beim nächsten Mal mitmachen will.“, flüstert Sascha, als Finchen nicht herhört.
„Zuzutrauen wär’s ihr.“, kichert Martha.

In der Woche zum zweiten Advent kommt ein Anruf von Mosch.
Die Präsentation gefällt ihm, er ist interessiert.
Aber ziemlich überrascht, als er hört, daß wir an Modehäuser verkauft haben und meine Modelle in mehreren Größen von der Stange angeboten werden.
„Adam, Sie sind doch kein Fast-Food-Designer!“
Ich habe wirklich den Eindruck, er fürchtet um meine Exclusivität. Die ihm ja schon einiges an Geld eingebracht hat.
„Wenn ich kein Fast Food essen will, kann ich leider nicht drauf warten, bis Sie anbeißen.“
Er hätte ja nicht so lange zögern brauchen.
Daß es Martha und mir ganz recht ist, nicht nur von seiner Gunst abhängig zu sein, verkneife ich mir zu sagen.
Erst denke ich, er ist eingeschnappt und legt auf.
„Herr Adam … könnten Sie nicht noch ein paar weitere Entwürfe aus dem Ärmel schütteln und diese exclusiv an mich verkaufen? Sie wissen, bei mir gehen Ihre Modelle als Einzelstücke über die Theke.“
Er weiß genau, wo er mich packen muß.
Ich sage zu.
Es ging ja nicht darum, gar nicht mehr an Mosch zu verkaufen, sondern nur darum, sich nicht zu sehr von ihm abhängig zu machen.
„Scheinbar ist er abhängig von dir.“, grinst Martha frech.
Nun habe ich gut zu tun, denn Mosch hätte die Entwürfe gerne noch vor dem Jahreswechsel.
„Und wir haben genug Geld, um Weihnachten nach Neuenkirchen zu fahren, nicht?“, freut sich meine Süße.
„Wir feiern nicht hier mit Sascha und Denise?“
„Doch, schon. Aber die beiden fahren am ersten Weihnachtstag zu Denise‘ Eltern. Finchen ist übrigens auch nicht da, sie wird von ihren Kindern abgeholt. … Ich habe Mama und Papa seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen.“, ergänzt sie leise.
Ja und daran bin ich nicht ganz unschuldig.
Und nur weil ich mich unbehaglich fühle bei dem Gedanken, Weihnachten bei ihren Eltern zu verbringen … nein, da muß ich durch!

In der Küche steht ein Kranz mit vier dicken roten Kerzen auf dem Tisch. Dazu eine Schale mit Nüssen und unseren liebevoll zubereiteten Plätzchen.
Martha hat dann selber noch Strohsterne gebastelt, die in den Fenstern hängen.
Ich habe bei einem Trödler einen schönen, altmodischen Nußknacker gefunden, über den sich Martha sehr gefreut hat.
Als ich sie frage, ob wir nicht Mistelzweige aufhängen wollen, fragt sie zurück: „Wir küssen uns doch eh überall, wo wir uns treffen.“
„Ja, schon … hach, da will man mal romantisch sein …“
Am selben Abend hängen über jedem Türrahmen Mistelzweige.
Damit habe ich mir was eingebrockt.
Sicher, Martha unter den Misteln zu küssen ist schön.
Aber dummerweise begegne ich Sascha auch darunter. Vor Marthas Augen.
Dumm von mir zu hoffen, sie würde mich so davonkommen lassen, wo das mit den Misteln doch meine Idee war.
„He, ihr zwei Hübschen, habt ihr nicht was vergessen?“, fragt sie und ihr diebischer Spaß an der Sache ist nicht zu überhören.
Ich fahre mir durch die Haare, verdrehe die Augen und starre dann erst die Misteln und hernach Sascha mißmutig an.
„So homophob?“, fragt Martha und kann kaum noch an sich halten. Auch Denise, die dazu kommt, grinst.
„Na los, wir wollen was sehen.“, meint sie schadenfroh.
Ich bin keinesfalls homophob und ich mag Sascha. Zwar jetzt nicht so, daß ich wild drauf wäre, ihn abzubusseln, aber … ach, drauf geschissen!
Ich fasse seinen Kopf mit meinen Händen und gebe ihm einen Schmatz auf den Schnabel.
„Nun zufrieden?“, frage ich Martha und Sascha raune ich zu „Wehe, ich treffe dich nochmal unter diesem Grünzeug!“
„Ja, Alter, ich liebe dich auch.“
So ganz können wir uns das Grinsen nicht verkneifen, wenn wir auch gegenüber Martha und Denise so tun, als wären wir grummelig.
Alles in allem sieht die dezente Deko aber hübsch aus – auch die tückischen Misteln - und es riecht gut bei uns.
Ich fange an, Gefallen an Weihnachten … an Marthas Weihnachten zu finden.
Ich glaube, ich bin in den letzten zwanzig Jahren Weihnachten und allem, was dazu gehört, aus dem Weg gegangen. Weihnachten – das ist etwas für die Familie, wie Martha sagte und die hat man mir genommen.
Aber Martha … und Sascha … ist das nicht jetzt meine Familie?
„Dana ist traurig, daß wir Weihnachten nicht kommen.“, erzählt mir Martha, als wir uns am Abend des zweiten Advents zusammenkuscheln.
„Warum fahrt ihr nicht in Düsseldorf vorbei, wenn ihr Marthas Eltern besucht?“, fragt Sascha.
„Hm ja, das liegt zwar nicht gerade nebenan. Aber auf dem Rückweg … Was meinst du, Juri?“
„Okay.“ Ich bin nicht so wild drauf, noch mehr Leute um mich zu haben, aber ich will, daß Martha glücklich ist.
„Alter, an Weihnachten muß man sich schon mal aufteilen, das ist normal. Heiligabend feiern wir vier und …“
„Ihr seid meine Familie, mehr brauch ich nicht.“ Damit spreche ich aus, was mir unlängst erst durch den Kopf gegangen ist.
Aber je näher Weihnachten rückt, desto unruhiger werde ich.
Ich wünschte, ich hätte das alles schon hinter mir.
„Denk nicht, ich wüßte nicht, daß bei dir so einiges wieder hochkommt.“
Ich werfe Sascha einen mißmutigen Blick zu.
„Meinst du, mir geht es anders? Meinst du, ich werde nicht hart schlucken, wenn Denise‘ Eltern sie in den Arm nehmen?“
Martha drückt sich fester an mich, nimmt meine rechte Hand in ihre und streichelt sie sanft.
Ich muß vor nichts Angst haben, wenn sie bei mir ist.

Noch bin ich gut abgelenkt; ich arbeite jede Nacht an den versprochenen Entwürfen für Mosch.
Martha arbeitet schon seit etlichen Tagen an weihnachtlichen Accessoires, die ihr geradezu aus den Händen gerissen werden.
Tatsächlich begegnen wir draußen Leuten, die einen Häkelschneemann am Wintermantel tragen.
Marthas Arbeiten lassen unsere Kasse klingeln und wir können uns erlauben, unseren treuen Helferlein einen kleinen Weihnachtsbonus zu zahlen.
Kurz vor dem dritten Advent gerate ich in Panik, als Martha was von Weihnachtsgeschenken sagt.
„Martha! Ich hab nicht die geringste Ahnung, was ich wem schenken soll. Ich … kann … das … nicht.“
„Keine Angst, Juri. Wir beide beschenken nicht einzeln, sondern als Paar. Und ich hab mich schon längst gekümmert.“
Ich seufze erleichtert und küsse sie auf die Stirn.
„Diese Schenkerei ist eh nicht so wichtig. Ich hab nur Kleinigkeiten. Was zählt, sind andere Dinge. Und die kann man nicht in buntes Papier und Schleifchen packen. Und deshalb … werden wir vier uns auch nichts schenken. Denise sieht das genauso. Wir freuen uns einfach, daß wir uns haben, nicht?“
Und wie ich mich freue, daß ich Martha habe.

Martha ist so beschäftigt, daß sie kein Wort mehr über den Baum verloren hat. Aber ich weiß, sie möchte einen.
Und ich habe mir in den Kopf gesetzt, sie mit einem fertig geschmückten Christbaum zu überraschen.
Sascha soll mir helfen.
Zuallererst damit, Denise dazu zu bringen, Martha lange genug zu beschäftigen. Denise schwindelt also, unbedingt noch mal auf den Weihnachtsmarkt zu wollen.
Sascha und ich kaufen den Baum. Und die nötige Deko.
Bis wir das Biest endlich in der Wohnung haben, liegen meine Nerven schon blank.
„Was für eine Scheiße, mit so ‚nem pieksigen Baum durch ein enges Altbautreppenhaus …“
„Bleib mal locker, Alter, wir haben’s doch gleich. … Hast du keine Handschuhe an?“
„Vergessen.“, knurre ich ihn böse an.
Das Netz, in das der Baum gewickelt ist, nutzt nichts. Als wir endlich oben sind, bin ich voller Harz und ziemlich wütend.
„Okay, denn mal ausgepackt.“ Sascha schneidet das Netz durch und die Äste schnucken zur Seite. Ich kann mich gerade noch in Sicherheit bringen.
„Bist du bescheuert?“
„Sorry, Alter.“
Sascha hat ‚nen Fuß für den Baum besorgt und füllt Wasser rein.
„Sonst nadelt das Teil bald wie blöde.“
Der Stamm ist aber zu dick für den Fuß.
„Hast du ‚ne Axt?“
„Tut’s ‚n Gurkenhobel auch?“
„Sehr witzig.“
Wir schnitzen also mit unseren Taschenmessern so lang an dem Baum rum, bis er in den Fuß paßt.
Das dauert verdammt lange.
„Warum gibt’s keinen Bleistiftanspitzer in dieser Größe?“, fragt Sascha und lacht.
„Also das Messer hier ist schon stumpf, muß ich erstmal schärfen.“, maule ich.
Auf dem Weg in die Küche verheddere ich mich mit den Füßen in dem Scheiß-Netz und wäre fast auf die Schnauze geflogen.
Als ich wiederkomme, bringe ich nicht nur das Wetzmesser mit, sondern auch eine Flasche Sljivovic und zwei Gläser.
„Sehr gut.“, lobt mich Sascha für diesen Einfall.
Gestärkt machen wir uns wieder ans Werk.
„Drin isser.“, meint Sascha schließlich triumphierend und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Wo ist die Deko?“
Ich reiche Sascha noch einen Sljivovic.
Gemeinsam holen wir die Deko von unten.
„Ist das nicht eigentlich ein bisschen viel?“
Ich betrachte die Kartons mit der Lichterkette, den Kugeln und Zapfen, dem Holzschmuck, dem Stern und dem Lametta.
„Nö. Martha soll den Baum aller Bäume haben.“
„Darauf stoßen wir an.“
Dann packen wir das Deko-Zeugs aus.
Ich hatte mir das ganz einfach vorgestellt.
Sachen dranhängen und fertig.
Doch nach kurzer Zeit bin ich schon wieder entnervt.
„Welcher Vollidiot hat sich eigentlich diese Befestigungen an den Kugeln ausgedacht?“
„Keine Ahnung. Und brüll nicht so, die Vibrationen lassen die Kugeln runterrutschen.“
„Das tun die Scheißdinger auch ohne daß ich brülle.“
Beim Zwirbeln der Drähte piekse ich mich, an den Nadeln sowieso und ich bin schon wieder voller Harz.
Als die dritte Kugel zu Bruch geht, fluche ich herzhaft.
„Hier, trink ‚nen Schluck.“
Guter, alter Sljivo, wenn wir dich nicht hätten!
An der Holzdeko sind Stoffbändchen zum Aufhängen.
„Ja toll und wie kriegt man die Bändels über die Zweige? Der Durchmesser ist doch zu klein.“
„Nadeln zusammenbiegen?“
Ich verdrehe die Augen und trinke erstmal noch ‚nen Schluck.
„Okay, jetzt die Lichterkette.“, meint Sascha unternehmungslustig.
Das Ding macht uns fast wahnsinnig.
Immer wieder rutschen die Klemmen ab und die Kerzen zeigen in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, aber selten nach oben.
„Muß mal pissen.“, meint Sascha mittendrin.
Ich starre den Baum wütend an, dem meine schlechte Laune aber offensichtlich ziemlich egal ist.
„Ich hab das blöde Gefühl, dieser Mistbaum lacht uns aus.“, knurre ich, als Sascha wiederkommt.
„Hier, Nervennahrung.“ Sascha hat den Plätzchenteller mitgebracht.
Ich stopfe mir einen Lebkuchen in den Mund und bin bereit, den Kampf mit der Lichterkette wiederaufzunehmen.
Und endlich haben wir das Ding so am Baum, daß die Kerzen einigermaßen gleichmäßig verteilt sind.
„Boah, Alter, wir sind ja sooo dämlich!“, meint Sascha plötzlich, als ich relativ ausgesöhnt mit dem widersetzlichen Baum dastehe.
„Was?“, zische ich, gleich wieder ungehalten.
„Der Stern für die Spitze.“
„Ja, und?“
„Hätten wir dranmachen sollen, als der Baum noch auf der Seite lag.“
Ich sage erstmal nichts. Und dann: „Wir sind doch große Jungs. Komm, ich bieg die Spitze runter und du machst den Stern drauf.“
Das klappt auch ganz prima.
Bis …
„Laaangsam losl…..“
Zu spät.
Die Spitze schnuckt zurück und der Stern fliegt bis hinter’s Sofa.
„Juri, du Trottel!“
Zeit für Sljivo und Plätzchen.
„Mit Liebe gebacken.“, murmele ich und starre auf den bunten Teller, während ich an den ersten Advent denke … und wieviel Spaß Martha und ich beim Backen hatten.
Backen macht eindeutig mehr Spaß als Baum schmücken.
„Spritzgebäck, was?“ Sascha verschluckt sich fast vor Lachen.
Ich brauche einen Moment, um zu kapieren.
„Ha ha.“
Aber mir fallen auch ein paar nette Zweideutigkeiten ein. Die behalte ich allerdings für mich, um Sascha nicht weiter anzustacheln. Der ist auch so schon gut genug drauf.
Der Stern hat’s überlebt.
Sascha biegt jetzt und ich klemme den Stern an den vermaledeiten Baum.
Nachdem wir die Kerzen, die durch das Baumschnucken verrutscht sind, wieder grade gerückt haben … und die Scherben der Kugeln, die bei der Aktion runtergerutscht sind, zusammengefegt … machen wir erstmal wieder eine kleine Pause.
„Dieser Baum hat was gegen uns.“, sage ich zu Sascha.
„Glaub ich langsam auch.“
„Ich hoffe, Martha weiß zu schätzen, daß wir für sie unser Leben riskieren.“
„Was macht man nicht alles für die Frauen.“
„Du sagst es. Kriegt Denise auch ‚nen Baum?“
Sascha zeigt mir ‚nen Vogel. „Meinste echt, ich tue mir sowas hier nochmal an? Ist doch Horror.“
„Der Christbaum des Grauens.“
„Ich hol mal neuen Sljivo. Is alle.“ Sascha steht langsam auf und schlurft Richtung Küche.
Ich raffe mich auch auf, weil ich jetzt auch mal pinkeln muß.
Sascha bringt nicht nur eine neue Flasche Sljivo mit, auch Nachschub an Plätzchen.
„Guck mal, Baumkuchen.“, kichert er.
„Geh weg damit. Ich kann das Wort Baum nich mehr hör’n.“, maule ich ihn an.
„Alter, trink. Sauf dir den Scheißbaum schön.“
Tatsächlich sieht der Baum mit steigendem Sljivo-Konsum immer hübscher und friedlicher aus.
Nicht mehr, als wolle er uns nach dem Leben trachten.
Aber auch er hat nicht mit dem teuflischen Lametta gerechnet.
„Das glitzert aber schön.“, meint Sascha, als wir die Pappen mit den goldenen und silbernen Bändchen aufreißen.
„Ja, wie Engelshaar.“, spotte ich und greife mir eine Lage von dem Zeug.
Sofort entwickelt es ein Eigenleben.
„Das klebt ja.“
Ich krieg das Gefissel gar nicht von den Pfoten.
„Klebt das La… La… Lametta oder deine Gri…ffel?“
„Hä?“
„Du frißt den ganzen A’hmd schon Marthas kösssliche Plätzchen. Und auf’n paar isss Zucker…*hicks*…gussss.“
„Ah so.“
Mir ist es eigentlich scheißegal, weswegen das Zeug so widerlich anhänglich ist.
Ich versuche, die Glitzerstreifen an den Baum zu bekommen, aber sie lassen mich nicht mehr los.
Ich fluche und tobe.
„Werfen, Alter. Einfach lässig …*hicks* … aus der Hüfffte. – So!“
Ein ganzer Klumpen Lametta segelt durch die Luft. Ein paar Streifen lösen sich und landen zufällig irgendwo auf dem Baum. Der Rest klatscht auf den Boden.
„Na?“, fragt Sascha stolz.
„Ja, klasse.“, murre ich.
„Darauf stoßen wir an.“
Dagegen ist nichts einzuwenden.
Ich probiere es auch mal mit Werfen. Doch die verhexten Streifen landen nie da, wo sie hin sollen.
Beim Bemühen, dieses dämliche Zeug irgendwie auf dem Baum zu verteilen, verheddere ich mich in den Streifen ebenso wie im Baum.
„Ich krieg hier ‚ne Krise!!!“, schreie ich wütend.
Mehrere Kugeln rutschen ab und bersten klirrend auf dem Boden.
„Aaaaaarrrghhh!!!“
„Bleib ma locker, Alder.“
Ich würde ihm eine reinhauen, wenn ich aus dem Scheißbaum loskäme.
„Das Ding fliegt gleich aus dem Fenster!“, brülle ich.
Sascha hilft mir, mich zu befreien. Meine ganzen Klamotten sind voller Harz, ich hab Lametta in den Haaren und an meinem linken Hosenbein hat sich eine rote Kugel verfangen.
„Gibsss echt ‚nen guten Chrissbaum ab.“, kichert Sascha und reicht mir Sljivo und Plätzchen.
Hinter uns rutscht wieder eine Kugel vom Baum, das Geräusch ist uns inzwischen sehr vertraut.
Sascha und ich sehen uns an … und müssen plötzlich lachen.
Wir lachen, bis uns die Puste ausgeht und wir zu Füßen des Baumes auf den Boden plumpsen.
„Morgen kaufen wir neue Kugeln … und gib den Baumkuchen her, ich hab Hunger.“
Wir schieben die leeren Schachteln auf dem Sofa beiseite, lassen uns darauf fallen.
Ich höre noch, wie jemand sagt „Was ist denn hier passiert?“ und irgendwer zieht mir sanft die Sljivo-Flasche aus der Hand ... 

Kapitel 17

Als ich aufwache, muß ich erstmal überlegen, wo ich bin und was passiert ist.
DER BAUM!
Ich drehe den Kopf … eindeutig zu schnell, denn mir wird schwummrig.
Dann sehe ich ihn und mich deucht, als würde das Ungeheuer seine klebrigen Arme nach mir ausstrecken.
Penn ich noch und hab Alpträume von Christbäumen?
Ich reibe mir die Augen.
Nein, alles soweit okay.
Der Baum rührt sich nicht.
Ich wickele mich aus der Wolldecke – wo kommt die eigentlich her? – und stehe langsam auf.
Von der Wohnzimmertür her höre ich ein Geräusch.
„Hallo, mein Schatz.“
Martha.
Da steht sie, hält sich die Finger vor den Mund und mir ist klar, daß sie sich bemühen muß, vor Lachen nicht zu platzen.
„Du siehst aus!“, prustet sie.
Was denn?
Ich fahre mir durch die Haare. Okay, die sind wohl ein wenig verstrubbelt. Und … ah, Lametta. Ungeduldig zerre ich daran.
„Warte, ich mach das.“
Martha schubst mich zurück auf’s Sofa und beginnt, mir vorsichtig den Weihnachtsschmuck aus den Haaren zu pflücken.
„Alter Zausel.“, flüstert sie zärtlich. „Was ist denn eigentlich passiert? Übrigens … sehr schön, der Baum.“
„Er gefällt dir?“
„Sehr.“
„Dann war’s das wert.“
„Also, wenn ich mir die zwei leeren Sljivo-Flaschen und die geplünderten Plätzchenvorräte ansehe, habt ihr beide doch Spaß gehabt.“
„Du hast ja keine Ahnung. … Du wolltest einen Baum und ich wollte dich damit überraschen.“
„Das ist sooo süß von dir.“ Sie küßt mich sehr zärtlich. „Uhhh, hast du ‚ne Fahne.“
„Sorry. Aber ohne den Sljivo wären wir durchgedreht mit diesem … Baum.“
Neben uns rührt sich was. Wir haben Sascha aufgeweckt.
Auch er reibt sich die Augen, erkennt Martha.
„Geiler Baum, was?“
Martha gluckst. „Ja, geiler Baum. – So, ihr Schnapsdrosseln, ab ins Bett! Ja, ihr beide pennt in unserem Bett, Denise und ich hier auf der Couch, wir müssen eh früh raus. Heiligabend, schon vergessen?“
Auweia, Weihnachten steht vor der Tür.
Ich werfe noch ein Blick auf den Baum, der mich anzugrinsen scheint, lasse mir von Martha ein Küßchen auf die Stirn drücken und taumle, Sascha im Schlepptau, ins Bett.
Hinter uns hören wir Martha und Denise kichern: „Das sind zwei Spinner!“

Dann ist Heiligabend.
Sascha und ich haben bis Mittag gepennt.
Martha und Denise ist es ganz recht, so konnten wir wenigstens nicht stören.
Sie haben das Chaos im Wohnzimmer beseitigt, Martha hat die Plätzchenteller aus ihren geheimen Vorräten neu gefüllt und als Sascha und ich in die Küche schlurfen, bereiten die beiden Süßen gerade das Essen für später vor.
„Na, Brummschädel?“, fragt Martha mitfühlend.
„Eigentlich nicht.“
„Aber trotzdem erstmal ‚nen Kaffee, was?“
„Ja, bitte.“
Nach dem Kaffee und einer ausgiebigen Dusche fühlen Sascha und ich uns zu neuen Schandtaten bereit.
„Was können wir tun?“, frage ich.
„Tja, nichts. Es ist alles soweit fertig.“, meint Martha zufrieden. „Aber ich glaube, euch beiden könnte ein bisschen frische Luft ganz gut tun.“
Das stimmt allerdings.
Und so machen wir vier einen schönen langen Spaziergang.
Es hat schon wieder geschneit. Und der Himmel ist grau und die Luft schmeckt nach noch mehr Schnee.
„Hab dich.“, ruft es und im selben Moment klatscht mir ein Schneeball in den Nacken.
„Du kroatischer Nichtsnutz!“, schimpfe ich und bücke mich, um mich zu rächen.
Und im Nu ist die schönste Schneeballschlacht im Gange.
Lachend und schnaufend zieht Martha mich an meinem Schal zu sich ran und küßt mich.
Ich stecke meine kalten Hände unter ihren Mantel, um mich an ihr zu wärmen.
„Iiiiks!“, macht sie, schmiegt sich aber noch enger an mich.
Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter, schließe die Augen und bin einfach glücklich.

Zuhause im Warmen dauert es eine Weile, bis wir uns alle trockengelegt und umgezogen haben.
Dann essen wir … es gibt Ražnjići, die Denise inzwischen perfekt beherrscht und Kartoffelsalat. Kein festliches Menu, aber Sascha und mir ist das grad recht.
Und Martha meint, wir würden die nächsten beiden Tage schon noch genug zu futtern bekommen.
Nach dem Essen machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich.
Martha reicht mir ein kleines Päckchen.
„Ich dachte, wir wollten uns nichts schenken.“, wundere ich mich.
„Es ist auch nicht … mach’s auf.“
Ich reiße das Papier auf und … meine Eltern … und ich … ein altes, vergilbtes Foto in einem schlichten Holzrahmen …
„Ich dachte … ich wollte … daß sie dabei sind … heute …“
Marthas Stimme klingt unsicher; ich merke, sie hat Angst, was falsch gemacht zu haben.
Ich küsse sie sanft auf die Stirn und drücke sie dann fest an mich.
„Danke.“, flüstere ich ihr ins Ohr.
Und merke, wie mir Tränen in die Augen steigen.
„Alles okay?“, fragt Martha sanft, als sie merkt, wie ich schlucken muß.
Ich nicke.
Langsam löse ich mich von ihr.
Ich nehme das Bild in meinen Schoß und betrachte es lange.
Martha hält meine Hand.
„Sascha hat den Rahmen selbst gemacht …“
Der Gute.
„Weihnachten war immer etwas Besonderes …“, sage ich leise.
Und dann beginne ich zu erzählen. Wie wir Weihnachten verbracht haben. Es war nicht immer leicht, denn wir waren nicht reich. Und der Winter auf dem Balkan ist oft hart. Aber wie Martha zu mir sagte … Weihnachten ist die Zeit, um zusammenzurücken. Trotz aller Entbehrungen war es für mich immer eine wunderbare Zeit.
Ich durchstreife meine Erinnerungen und finde viele schöne Dinge.
Mutters glückliches Lächeln, wenn ihr Sohnemann mit dem neuen Spielzeug lostobte, das Vater selbst gebaut hatte.
Längst habe ich das Glas des Bilderrahmens vollgetropft, aber ich fühle mich nicht verzweifelt und frustriert.
Ich vermisse sie nur so und wünschte, sie wären jetzt hier.
Aber irgendwie sind sie das sogar.
Ich wische mir die Augen.
Martha hört nicht auf, sanft meine Hand zu streicheln.
Meine andere Hand streichelt das Bild.
Ich blicke auf den Baum.
Er scheint mir etwas zuzuflüstern. Von vergangenen Zeiten zu sprechen.
Holz war knapp damals. Und trotzdem hat Vater immer dafür gesorgt, daß wir Weihnachten einen Baum hatten.
Einen kleinen Baum, einen schlichten Baum. Aber einen echten Christbaum.
Ich durfte ihn aussuchen und Vater helfen, ihn nach Hause zu bringen.
Mutter hat ihn geschmückt.
Er hatte keine Lichterkette, kein Lametta und keine bunten Kugeln.
Und trotzdem war es der schönste aller Christbäume.
„Nein, so will ich das nicht.“, sage ich und stehe auf.
Und fange an, das Lametta, die Kugeln und die Lichterkette vom Baum zu pflücken.
„Juri, was hast du denn?“, fragt Martha besorgt und legt mir eine warme Hand auf die Schulter.
Auch Sascha und Denise sind aufgesprungen und sehen mich besorgt an.
„Alles okay. Nur der Baum nicht. Dieses Zeug muß runter. Da gehören Äpfel und Lebkuchen dran. Strohsterne und echte Tannenzapfen.“
Ohne daß ich mich erklären muß, verstehen die drei sofort, um was es mir geht.
Sascha geht noch mal raus und sammelt Tannenzapfen.
Martha bastelt weitere Strohsterne.
Denise bohrt Löcher in Äpfel und Gebäck, fädelt Schnüre durch.
Und ich hole alles vom Baum, was da nicht hingehört.
Gemeinsam schmücken wir ihn nun neu.
Und bald sieht der Baum genauso so aus wie der Baum aus meiner Erinnerung.
Ich hole den Rahmen mit dem Foto meiner Eltern und lehne es an den Baum.
Martha stellt still eine Kerze davor.
Ich drehe mich um, blicke sie an und auch Sascha und Denise.
Der Reihe nach drücke ich sie lange.

Dann sitzen wir bei Kerzenschein zusammen, Martha warm an mich gekuschelt.
Sascha erzählt nun von seinem Weihnachten, das meinem sehr gleicht.
Er hält oft inne in seiner Erzählung, besonders, wenn er von seinem Vater spricht.
Es macht ihm immer noch zu schaffen, daß sein Vater meine Eltern getötet hat.
Und es spricht für ihn, daß er dessen Taten nicht einfach damit abtun kann, daß es eben Krieg war.
Aber was er von ihm erzählt, klingt nicht nach einem ausgesprochen schlechten Menschen, einem Rohling ohne Gefühle.
Wir alle merken, wie sehr Sascha ihn geliebt hat.
Denise macht eine Flasche Wein auf und Sascha und ich stoßen an. „Auf unsere Väter.“
„Und deren Söhne.“, sagen Martha und Denise gleichzeitig.

Sascha und Denise schlafen in unserem Bett, weil ich mit Martha hier beim Baum bleiben will.
Irgendwie habe ich das Gefühl, meinen Eltern dort näher zu sein.
Ich halte Martha im Arm, blicke auf das Foto … und denke wieder an die glückliche, unbeschwerte Weihnachtszeit, die ich mit meinen Eltern erlebt habe. Ich muß lächeln, als ich mich daran erinnere, wie Vater beim Rodeln in eine Schneeverwehung gerutscht ist und sich prustend frei schaufelte. Und ich stand daneben und habe gelacht. Und ich habe auch gelacht, wenn er Mama die heißen Plätzchen vom Blech gemaust hat.
Ich glaube, sie wären glücklich, wenn sie mich heute gesehen hätten. Daß ihr Sohn dank der wunderbaren Frau an seiner Seite zu dem kleinen Jungen zurückgefunden hat, der Spaß an einer Schneeballschlacht hat und sich über die duftenden Äpfel am Christbaum freut.
Ich sehe Martha an, die schon schläft.
Danke für alles. Du bist wirklich das Beste, was mir je passiert ist. Ich liebe dich.
Als die Kerzen auf dem Adventskranz verlöschen, schlafe ich ein.

Kapitel 18

Am nächsten Morgen frühstücken wir alle gemeinsam ganz gemütlich.
Dann machen sich Sascha und Denise auf die Reise.
„Paßt auf euch auf!“, werden wir ermahnt.
Martha und ich haben schnell gepackt, was wir für die zwei Tage brauchen werden.
„Was soll ich eigentlich anziehen?“, frage ich etwas verlegen.
„Na, was du immer trägst. Du sollst dich doch wohlfühlen. Wie willst du das, wenn du dich verkleidest?“
Mit einem schlichten weißen Hemd zu meinen Jeans fühle ich mich allerdings nicht verkleidet. Aber besser aussehen als meine Shirts, von denen etliche schon so ausgeleiert sind, tut es doch.
Und dann sind wir unterwegs.
Ich bin sehr schweigsam, mir ist nach dem gestrigen Abend nicht nach reden.
Außerdem bin ich nun doch beunruhigt, was das Treffen mit Marthas Eltern angeht.
Ich weiß, Martha hat sich ihre eigene Meinung über mich gebildet und wird sich auch von ihren Eltern nichts einreden lassen.
Trotzdem wäre es sehr unangenehm, wenn sie …
„Alles okay?“
„Bin nervös.“
„Wegen Mama und Papa? Brauchst du nicht. Die sind eigentlich recht pflegeleicht. Sollte Mama merken, was für ein armer Kerl du bist, wird sie dich sofort bemuttern wollen.“
„Ich hab keine Ahnung, was und wieviel ich ihnen von mir erzählen soll.“
„Geh nach deinem Bauchgefühl. Was sich richtig anfühlt, das mach. Zwing dich zu nichts, was du nicht willst.“
Marthas Worte bewirken, daß ich mich sofort wohler fühle.
Sie hält fast die ganze Zeit irgendwie Körperkontakt mit mir, auch das ist beruhigend.

Doch als wir schließlich vor Marthas Elternhaus in Neuenkirchen stehen und Martha die Klingel drückt, ist die Nervosität wieder da.
Die Tür öffnet sich … und Martha fliegt ihren Eltern um den Hals.
Ganz lange drückt sie beide immer wieder, wischt sich die Augen.
Und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich sie so lange von ihren Eltern ferngehalten habe.
Ich fühle mich wie ein Eindringling und würde am liebsten weglaufen.
Da dreht sich Martha zu mir um, strahlt mich an, faßt mich bei der Hand und zieht mich zu ihren Eltern.
„Das ist Juri.“
Kann es sein, daß sie stolz drauf ist, mich vorzustellen?
„Ich bin Peter und das ist meine Frau Gisela. Herzlich willkommen!“
Beide reichen mir die Hand und sehen mich eigentlich sehr freundlich an. Vielleicht ein bisschen prüfend, aber das würde ich an ihrer Stelle wohl auch machen.
Wenige Augenblicke später sitzen wir am Eßtisch.
Wasser und Saft stehen auf dem Tisch.
„Kaffee?“, fragt Marthas Mutter. „Die Fahrt war sicher anstrengend.“
„Oh, danke, gerne.“ Ja, ein Kaffee wird mir jetzt guttun.
Marthas Mutter stellt eine Schale mit Gebäck auf den Tisch.
Martha greift sich gleich einen Spekulatius.
„Juri und ich haben auch gebacken, Mama.“, erzählt sie munter.
„Du hast gebacken und ich hab Chaos verbreitet.“, korrigiere ich leise.
Doch Marthas Mutter hat mich gehört.
„Wie bei uns, nicht, Peter?“
Der grunzt nur.
„Und? Mußte dein Schatz hinterher auch in die Wanne wie ein Kleinkind, das sich mit Brei vollgeschlabbert hat?“
„Hm, so in etwa.“, lacht Martha. „Juri hat das mir zuliebe gemacht. Also das Backen.“
„So, den Vogel kann ich jetzt sich selbst überlassen.“, hören wir hinter uns. „Kann ich mich auch endlich mal hinsetzen. … Haben Sie bei sowas auch zwei linke Hände? Kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie sind doch Designer, also Künstler.“
„Lassen Sie das „Sie“ weg, bitte. Ich bin einfach Juri.“
„Gut. Wenn du mich auch beim Vornamen nennst, geht das in Ordnung.“
Ich nicke.
„Ich finde auch, nur weil wir uns bisher nicht persönlich kannten, gehören wir ja doch zusammen. Immerhin wollen Martha und Sie … huch, da bin ich selber in die Falle getappt … also, wollt Martha und du heiraten. … Wollt ihr doch, oder?“, fragt er, als Martha und ich schweigen.
„Ja. Ja, das will ich wirklich.“, sage ich bestimmt.
„Und ich will Juri auch heiraten. Er ist der Richtige.“ Martha steht auf und küßt mich kurz, aber sehr zärtlich.
„Ja, dann … habt ihr denn schon überlegt, wann? Zumindest grob?“
Damit bringt er mich in Bedrängnis.
Ich bin entschlossen, Martha erst zu heiraten, wenn ich meine Therapie hinter mir habe. Die will ich aber erst beginnen, wenn unser Laden rund läuft. Was allerdings bald der Fall sein könnte.
Aber Marthas Eltern haben keine Ahnung von meinen Problemen und warum ich eine Therapie nötig habe.
Martha sieht mich liebevoll-besorgt an.
Ich denke an ihre Worte … auf’s Bauchgefühl hören.
„Ich will erst eine Therapie machen.“
„Eine Therapie? Siehst mir gar nicht wie ein Alkoholiker aus.“, wundert sich Peter.
„Nein, kein Alkohol.“ Irgendwie meine ich, Marthas Eltern unterdrückt aufseufzen zu hören. „Vergangenheitsbewältigung.“
Die beiden sehen mich fragend an.
„Ich stamme aus Serbien. Ich hab … meine Eltern im Krieg verloren. Ich mußte … zusehen, wie sie … erschossen wurden.“
Beide sehen mich mitfühlend an. Und ich weiß nicht, ob es nun leichter oder schwerer für mich ist, weiterzusprechen.
„Über zwanzig Jahre hab ich mich … mich mit Haß, Schuldgefühlen, Verlust- und Bindungsängsten rumgeschleppt. Aber ich hab das alles … verdrängt. Mich nie damit auseinandersetzen wollen. … - Sorry, ich bin nicht so gut im Reden. Ich …“
„Juri ist eher wortkarg. Und wenn es dann noch um sowas geht …“, erklärt Martha ihren Eltern.
„Danke.“, sage ich leise. Und fahre dann fort: „Es ging ja auch so. Ich bin ein erfolgreicher Designer geworden, hatte genug Geld. Das damals … war eben damals. Das interessierte niemanden mehr. Und überhaupt ging das ja nur mich was an. Und weil ich nie jemanden an mich rangelassen habe … hat auch nie jemand gemerkt, was ich eigentlich für ein … kaputter Typ war. … Bis ich Martha traf.“
Sie nimmt unter dem Tisch meine Hand in ihre.
Ich seufze tief und spreche weiter. „Sie hat einfach hinter die Schutzmauer gesehen, die ich mir so mühsam aufgebaut habe. Ich habe das nicht bewußt wahrgenommen. Bis es zu spät war. Ich hab … versucht, sie auf Abstand zu halten. Weil mir ihre Nähe Angst machte. Aber sie hat nicht lockergelassen.“
„Ja, wen unsere Martha einmal ins Herz schließt …“ Marthas Mutter streicht ihr liebevoll über den Kopf.
„Und ich … ich hab’s nie wirklich geschafft, mich von ihr zu lösen. Ein Teil von mir wollte sie immer festhalten. Ich war so zerrissen. Und bis ich wirklich dazu bereit war, mich auf meine Gefühle für sie einzulassen … und eine ernsthafte Beziehung … habe ich ihr mehr als einmal sehr weh getan.“
Martha drückt sanft meine Hand.
„Sie will dich aber trotzdem heiraten. Also mußt du es wert sein.“ Peter lächelt mir zu.
„Zwanzig Jahre … meine Güte … das schüttelt man nicht so einfach ab …“ Marthas Mutter schaut betroffen aus.
„Nee, wirklich nicht. Jetzt kann ich es ja sagen, aber ich war oft fix und fertig wegen Juri. Keine Ahnung, wie oft ich mich bei Dana ausgeheult habe. Aber ich konnte und wollte nie aufhören, ihn zu lieben. Und tief in mir wußte ich, daß er mir nicht absichtlich weh tut, daß er ein ganz armer Kerl ist, gefangen in sich selbst … einsam und unglücklich.“
„Da kam sicher auch der wolf’sche Mutterinstinkt durch. Wir müssen uns so armer Knöpfe immer annehmen.“, meint Gisela und schnuffelt und lächelt gleichzeitig.
„Aber warum die Therapie? Klingt doch, als hätte Marthas Liebe dich von deinen Ängsten befreit.“ Peter sieht mich fragend an.
„Nicht ganz. Als Martha nach Berlin wollte, um sich den Laden ihrer Freundin anzusehen … ich hatte einen ganz furchtbaren Alptraum. Und der hat mir klargemacht, daß ich meine Verlustängste noch nicht los bin. Ich will aber keine Altlasten mit in unsere Ehe nehmen.“
Die Sache mit Sascha erwähne ich nicht und bin sicher, auch Martha denkt, daß ihre Eltern nicht alles wissen müssen. Schon gar nicht Dinge, die sie beunruhigen würden.
Die beiden sehen mich an und nicken zustimmend.
Daß ich die Ehe mit Martha so ernst nehme, scheint mir Achtung zu verschaffen.

Martha erzählt dann ein paar amüsante Anekdoten aus unserer gemeinsamen Zeit. Wie wir uns kennengelernt haben, wie sie mir ein Bügeleisen auf den Fuß geworfen hat, wie sie seufzend die Models beobachtet hat, mit denen ich losgezogen bin … und überzeugt war, nie eine Chance bei mir zu haben.
Munter plaudert sie darüber, wie sie sich auf allen Vieren aus meinem Loft stehlen wollte, wie sie mich küssen wollte und hoffte, ich hätt’s nicht gemerkt. Auch das Münchner Hotelzimmer kommt nicht zu kurz.

„Aber einer meiner peinlichsten Klöpse war … grad mal einen Tag, nachdem ich mich in meiner Preßpelle zur Helga gemacht habe … also, Juri wollte uns alle sehen. Und Kim hatte mir grad gesagt, daß sie sich den Assistenz-Job bei Juri krallen will … Jedenfalls, er steht vor uns, Kim schleimt sich an ihn ran … und ich krieg Panik, daß sie’s schafft. Und was mach ich? Posaune ihm ‚Nimm mich!‘ entgegen. Als alle verstummen, wird mir klar, wie sich das angehört haben muß. Und wieder hätt‘ ich im Erdboden versinken können. … Könnt ihr euch vorstellen, daß Juri sich trotzdem in mich verliebt hat?“, lacht sie.
Ich muß schmunzeln.
Ich erinnere mich ganz gut an diesen Moment. Rebecca hatte sich anschließend gefühlte tausend Mal bei mir entschuldigt. Dabei habe ich mich nicht belästigt, sondern nur amüsiert gefühlt. Martha kam mir einfach ein wenig drollig-überdreht vor.
Daß Martha sagt, was sie denkt und fühlt, gehört zu ihr wie ihre Tollpatschigkeit.
„Könnt ihr euch vorstellen, daß Juri sich trotzdem in mich verliebt hat?“, lacht sie.
„Martha? Du hast die wichtigsten Dinge ausgelassen. Daß du immer für mich da warst. Daß ich mich stets auf dich verlassen konnte. Selbst wenn du dich von mir zurückgestoßen fühltest. Du weißt, wie wichtig mir deine ehrliche Meinung immer war. Daß ich immer ernstgenommen habe, was du mir gesagt hast. Selbst oder vor allem dann, wenn es nicht schmeichelhaft für mich war. Du weißt, daß ich lieber für mich alleine war. Aber bei und mit dir habe ich mich immer wohlgefühlt. Du hast mir gutgetan. Tust du immer noch. … Ich liebe dich.“
Martha sagt nichts, aber sie muß schlucken. Sie weiß, was es bedeutet, wenn ich so viele Worte mache, wo Reden sonst so gar nicht mein Ding ist.
„Ich seh mal nach dem Puter.“, meint Peter und steht eilig auf.
Auch Gisela braucht dringend eine weitere Tasse Kaffee.
Ich halte Martha im Arm, die mir zärtlich durch die Haare fährt.

Nach dem Essen hilft Martha ihrer Mutter beim Abwasch. Ich darf nicht helfen, da sind die beiden Frauen sehr resolut.
Ich sitze mit Peter zusammen, der mich etliches über meine Arbeit fragt und auch wissen will, wie es mit unserem Laden so läuft.
Ich erzähle ihm, wie unentbehrlich Martha mir geworden ist, schon in der Zeit, als sie noch meine Assistentin war. Daß sie mich inspiriert und mich versteht, ohne daß ich mich groß erklären muß.
Ich bin ehrlich und mache klar, daß unser Laden ganz gut läuft, aber nicht zu erwarten ist, daß ich Martha mal viel bieten kann.
„Ich kenne meine Tochter. Liebe und Respekt sind ihr wichtiger als ein dickes Bankkonto. Und meine Frau und ich wollen nur eins … daß sie glücklich ist. Und wenn ich sie mir so anschaue … dann ist sie sogar sehr glücklich.“
Seine Worte machen mich verlegen. Aber ich bin auch erleichtert, daß Marthas Eltern keine Erwartungen haben, die ich nicht erfüllen kann.
In einer kurzen Gesprächspause hören wir Marthas Mutter sagen: „Also dein Juri sieht schon echt verdammt gut aus. Nach dem lecken sich sicher eine Menge Frauen die Finger.“
Peter tut so, als hätte er nichts gehört, aber ich merke, wie sein Kopf kurz in Richtung Küche ruckt.
„Mama!“, kichert Martha.
„Hat doch ‚ne tolle, muskulöse Figur. Und so herrliches volles Haar.“
Jetzt wird mir die Sache unangenehm, denn Peters Kopfschmuck ist schon ziemlich schütter.
„Und er gehört dir, Kind! Er liebt dich!“
Gisela scheint Martha für einen Glückspilz zu halten.
Ich versuche, Peters Aufmerksamkeit wieder auf unser Gespräch zu lenken.
„Ohne Martha wäre ich aufgeschmissen. Bevor ich bei LCL gearbeitet habe, war ich schon mal selbstständig, hatte mein eigenes Label. Wenn meine Sachen nicht so anders gewesen wären, hätte kein Hahn nach mir gekräht. Ich bin wohl echt der typische Künstler. Chaotisch und absolut ohne Geschäftssinn.“
„Und ein Dickkopf noch dazu, denke ich.“
Ich nicke. „Lieber alles hinzuschmeißen als nachzugeben, kann ein echtes Problem sein. Durch Martha lerne ich, auch mal Kompromisse einzugehen. Sie verlangt nicht, daß ich alle meine Prinzipien über den Haufen werfe, aber …“
„Sie dirigiert dich mit sanfter Hand in die richtige Richtung.“
„Ja. Sie holt mich einfach wieder runter. Ich lerne so viel von ihr. … Ich bin ihr sehr dankbar für alles. Vor allem für ihre Geduld mit mir. Auch wenn ich schon Fortschritte gemacht habe, hat sie es immer noch nicht leicht mit mir.“
„Ich kann genauso anstrengend sein.“ Martha und ihre Mutter kommen aus der Küche.
„Ich bin eine Nervensäge, rede viel zuviel und und und.“
Ich ziehe sie zu mir auf den Schoß und küsse sie zärtlich.
„Mein Patentrezept, wenn sie zuviel redet.“, sage ich grinsend. „Hilft immer.“
Marthas Eltern grinsen auch.
Und Martha legt mir die Arme um den Hals und seufzt „Ach, Juri …“ in mein Ohr.

„Verdauungsschnaps oder –spaziergang?“, fragt Peter.
„Also ich würd‘ gern was raus. Juri zeigen, wo ich gearbeitet habe und so.“, meint Martha munter.
„Gerne.“, sage ich.
Für meine Verhältnisse habe ich zuviel geredet und mich zuwenig bewegt.
Kurz darauf schlendern wir los.
Martha legt gleich ihren Arm um mich. Ich atme tief die klare Winterluft ein, lege ihr nun auch meinen Arm um die Schulter und denke, daß der Besuch bei ihren Eltern gar nicht so schlimm ist.
Neuenkirchen ist ziemlich klein, aber es gefällt mir.
Im Stadtkern gibt es alte Gebäude, nur wenig moderne Bauten.
Außerdem Denkmäler, Skulpturen.
Schon bald habe ich mein Handy gezückt und mache Fotos, weil überall Inspirationen auf mich lauern.
„Ich liebe alte Gemäuer, überhaupt alles, was schon viel gesehen, viel zu erzählen hat.“, erkläre ich.
Ein paar Minuten später bleibt Martha vor einem Schaufenster stehen.
„Da ist es.“
Sie sieht mich an.
„Schlenz & Schulze Damenmoden.“
Ich sehe mir die Auslagen hinter der Scheibe an.
„Hier hast du gearbeitet?“
„Ja.“
„Kann ich verstehen, daß du hier frustriert warst.“
Nichts hier hat was von Marthas Lebensfreude, ihrem Temperament, ihrer verspielten Natur. Alles sieht leblos aus, ohne Gefühl …
„Nun weißt du, wie mir zumute war, als ich von Tanja so eiskalt abserviert wurde. Und ich dachte, ich müßte hierher zurück. … Nichts gegen Neuenkirchen, im Prinzip ist es schön hier. So ruhig und idyllisch. Gut zum Abschalten. Aber um kreativ zu sein … ist’s hier zu spießig.“, fügt sie leise hinzu.
„Ich dachte damals echt, ich müßte bis an mein Lebensende Faltenröcke und Rüschenblusen für reife Damen nähen.“, seufzt sie.
„Zum Glück für die Modewelt und mich hast du dich entschieden, für deinen Traum zu kämpfen.“
„Ja. Und das war die beste Entscheidung meines Lebens.“
Sie küßt mich lang und innig. So lang, bis Marthas Eltern sich räuspern, weil ihnen vom Rumstehen kalt wird.
Aber sie lächeln, als wir uns voneinander lösen.

Wieder zurück gibt es eine kleine Bescherung.
Unter dem hübsch und dezent geschmückten Baum liegen zwar eine Menge Päckchen, aber die meisten sind für die wolf’sche Familie in Düsseldorf.
Martha überreicht unsere, von ihr ausgesuchten Geschenke.
Als die beiden sich bei mir bedanken, entschuldige ich mich: „Also … ehm … Martha hat das ausgesucht. Ich hätte nicht gewußt …“
Marthas Eltern freuen sich besonders über das gerahmte Foto mit uns beiden, das seinen Platz über dem Eßtisch in der Küche bekommt.
Und Martha und ich freuen uns über das rustikale, hölzerne Türschild, in das „Martha & Juri“ eingebrannt ist.
„Für die Postzustellung natürlich absolut untauglich. Aber wir wissen ja nicht, was für ein Nachname nach eurer Hochzeit an der Tür stehen muß. Deswegen haben wir ihn ganz weggelassen.“, lacht Peter.

Der Rest des Abends verläuft ganz entspannt.
Gisela hat kleine Häppchen zubereitet und dann sitzen wir im Wohnzimmer und unterhalten uns.
Das heißt, Martha plaudert munter mit ihren Eltern. Was es hier Neues gibt, was gemeinsame Bekannte machen. Natürlich erzählt sie auch von ihren Verwandten in Düsseldorf – ihr Onkel Thomas ist Peters Bruder.
Auch auf Viktoria kommt man zu sprechen und auf Peters Gewissensbisse, daß er seinem Bruder nur telefonisch beigestanden hat.
Ich höre meist nur zu, was aber anscheinend absolut in Ordnung ist.
Hier allerdings bin ich direkt beteiligt, da ich bei dem schrecklichen Unfall ja dabei war.
„Ich vermisse Viktoria sehr. Und es ist schrecklich, was passiert ist. Daß Thommy seine Mutter so früh verloren hat. … Aber als ich ins Krankenhaus geeilt bin, voller Angst um Juri ... da wußte ich ja noch nicht, daß Viktoria tot ist … und da ist mir klar geworden, wie schnell alles vorbei sein kann. In einem einzigen Augenblick. Und ich glaube, das war der Moment, wo ich fühlte, daß … daß jeder Moment mit dem Menschen, den man liebt, kostbar ist. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte Juri verloren, ohne ihm eine Chance gegeben zu haben …“
Sie schluckt und eine einzelne Träne rollt über ihre Wange.
Ich ziehe sie fest an mich. „Hey …“
„Nein, Juri, das ist so! Ich war in dem Moment zu feige, um das offen auszusprechen. Ich war irgendwie gelähmt und bin auf Abstand geblieben, obwohl ich das überhaupt nicht mehr wollte. Jedenfalls … Viktorias Tod hat auch was zum Positiven verändert. Ich werde keine Chance mehr hinausschieben und abwarten. Dafür ist das Leben zu kurz.“
Wir stoßen an, auf das Leben, auf uns, alles, was uns lieb und teuer ist.

Wir schlafen in Marthas Zimmer.
„Hier hat sich nichts verändert. Bisschen staubiger ist es.“, kichert Martha. „Da in der Ecke stand meine Schneiderpuppe. Und hier an meinem kleinen Schreibtisch hab ich gesessen und geträumt. Davon, in einem großen Modehaus zu arbeiten, mit namhaften Designern zusammen. Anteil zu haben an neuen Trends, an mutigen Designs … und ich hab das alles erreicht! … Gut, ich bin jetzt nicht DER strahlende Stern am Modehimmel … aber …will ich auch gar nicht. Für eine, die auch bei Schlenz & Schulze hätte versauern können, bin ich echt weit gekommen.“
„Ich muß dir nicht sagen, was ich von dir und deinem Talent und deinen Fähigkeiten halte, hm?“
„Nein, mußt du nicht. Darfst du aber. … Nee, Quatsch, du bist müde. Genug geredet, jetzt wird gekuschelt.“
Damit bin ich sehr einverstanden.

Nach dem Frühstück am nächsten Tag gibt es einen herzlichen Abschied und das Versprechen, daß bis zum nächsten Wiedersehen nicht wieder zwei Jahre vergehen.
„Ich bin auch nicht so der Typ für große Worte oder irgendeinen Schmus.“, meint Peter zu mir. „Also … alles Gute, bleibt gesund und weiterhin viel Erfolg für euren Laden!“
„Danke.“
Er drückt mich kurz.
„Mein Junge!“ Gisela drückt mich wesentlich länger an sich als ihr Mann. Ich glaube, das mit dem wolf’schen Bemuttern stimmt. Zumindest beim weiblichen Teil der Familie.
„Vielen Dank für die herzliche Aufnahme und alles.“
„Oh, nichts zu danken, du gehörst doch zur Familie.“
Martha fällt ihren Eltern mehr als einmal um den Hals, drückt und herzt sie.
So ist sie. Und so liebe ich sie.
„Paß gut auf ihn auf.“, höre ich Gisela zu ihrer Tochter sagen.
„Das mach ich.“ antwortet Martha in zärtlichem Tonfall, der mir gilt.
„Habt ihr alles? Alle Geschenke für unsere Düsseldorfer Wölfe?“
„Alles verstaut, Mama. Ich melde mich, wenn wir da sind.“
„Ja, bitte. Tschüß, mein Schatz.“ 


Kapitel 19
 
Martha winkt so lange aus dem Autofenster, bis sie ihre Eltern nicht mehr sehen kann.
"Am liebsten würd‘ ich sie einpacken und mitnehmen.“ Sie zückt ein Taschentuch und schnaubt hinein. „Sorry.“
„Hey, ich versteh‘ das.“
„Daß ich tröte wie ein Elefant?“
Ich muß lachen. „Nein, daß du dich nicht so leicht von ihnen trennen kannst. Hast sie zwei Jahre nicht gesehen und mußt nach einem halben Tag schon wieder Abschied nehmen.“
„Bin ich ja selbst schuld. Wenn ich nicht nach Düsseldorf wollte, könnten wir noch bleiben.“
„Hast halt eine große Familie. Und willst auf keinen verzichten. Auch das ist doch verständlich.“
„Ja, aber Mama und Papa habe ich ja viel länger nicht gesehen.“
„Wir können umdrehen und zurückfahren. Mußt du nur sagen.“
„Nein, nein, ich kann Dana jetzt nicht mehr absagen. Die freuen sich ja auch, daß wir kommen.“

Von Neuenkirchen nach Düsseldorf ist es nicht sehr weit und am späten Vormittag sind wir da.
„Cousiiiiiinchen!!!“ Dana schlingt ihre Arme um Martha und knuddelt sie herzhaft durch. Kein Zweifel, daß sie sich sehr freut.
„Juri, grüß dich.“ Auch ich werde umarmt, nur nicht ganz so stürmisch.
Dann werden wir in die Wohnung gezerrt, Widerstand wäre vollkommen zwecklos.
Auch Kim und Emilio, Marlene, Thomas und Biggi begrüßen uns nun.
„Schick siehst du aus.“, meint Thomas, als Martha sich aus ihrem Mantel schält.
„Oh, danke.“ Martha strahlt. Für den langen Rock, den sie trägt, hab ich den Schnitt entworfen, sie hat das Material und die Farbe bestimmt. Und dem Rock ihren ganz persönlichen Stil gegeben.
„Ich … hol mal die Geschenke aus dem Wagen.“, sage ich. Mir ist die Begrüßungsszene grad etwas viel.
„Ich helf dir.“ Emilio folgt mir. „Das ganze Rudel auf einmal kann ziemlich heftig sein, was?“
„Zuviel Gefühle auf einmal. Ich muß erst lernen, darauf klarzukommen. Und nach den letzten beiden Tagen fällt mir das schwer.“
„War’s schlimm? Bei Marthas Eltern?“
„Eigentlich nicht. Sie haben mich gleich akzeptiert, respektiert. Aber es hat mich trotzdem emotional gefordert. Ich bin halt eher gewohnt, solche Situationen zu meiden.“
„So’n cooler Typ wie du und trotzdem so’n dünnes Fell.“, grinst Emilio. „Sag mal, was schleppt ihr denn hier alles an?“
„Das meiste ist, glaub ich, von Marthas Eltern.“
Gemeinsam tragen wir die Tüten nach oben.
„Ach herrje! Das wird ja eine schöne Bescherung.“, meint Thomas trocken, als wir unsere Last abladen.
„Kaffee, Juri?“, fragt Biggi.
„Oh ja, danke.“
Kurz darauf sitze ich mit Emilio, Thomas und Biggi am Tisch, während Martha mit ihren Cousinen auf dem Sofa hockt und bereits eifrig am Erzählen ist.
„So schweigsam? Überdosis Weihnachtsidylle?“, fragt Thomas.
„Der ist einfach ein bisschen fertig. Wo Martha aufblüht, strengt ihn das an.“, erklärt Emilio recht gut.
„Kann ich verstehen. Aber mit Peter und Gisela bist du klargekommen, nicht? Die sind eigentlich sehr aufgeschlossen.“
„Nein, das war kein Problem. Ich war eher überrascht, daß sie mich so schnell als Marthas künftigen Ehemann akzeptiert haben. Ich hab da doch mehr Bedenken erwartet.“
„Hör mal, wenn du dich mal für ‚ne Stunde zurückziehen willst … Marthas Zimmer steht dir zur Verfügung.“
„Das ist nett, aber ich bin okay. Und ich kann auch so gut abschalten, das hab ich gelernt.“
„Wenn wir dich was fragen und du starrst nur ins Leere statt zu antworten, wissen wir Bescheid.“, grinst Emilio.
„Waaaas, Sascha ist Model?“, hören wir Kim vom Sofa her. „Ich schmeiß mich weg – der Ex-Hausmeister von LCL auf dem Laufsteg?“
„Und er ist richtig gut.“, lobt Martha unseren Freund.
„Echt? Sascha modelt für euch?“, fragt Emilio mich.
„Ich brauchte ein männliches Model. Sascha zu nehmen, lag einfach nahe. Er paßt vom Typ, wir verstehen uns. Und da wir schon ein wenig rechnen müssen … er kostet nicht so viel wie ein professionelles Model von einer Agentur.“
„Klar. Und wie gefällt es ihm?“
„Er kommt sich ein bisschen komisch vor. Er ist nicht so der Typ, der sich gerne produziert. Und das muß man nun mal auf dem Laufsteg. Aber dafür macht er es echt gut. Und sonst ist er einfach ein verläßlicher Freund und uns eine große Hilfe.“
„Das hört man doch gern.“, meint Thomas.
„Künstler wie ich kommen halt irgendwie alleine nicht klar. Ich bewundere Martha dafür, daß sie beides schafft – kreativ zu sein und sich gleichzeitig um das Geschäftliche unseres Ladens zu kümmern.“
„Frauen sind eben multitaskingfähig.“, grinst Emilio. „Nein, im Ernst – Martha ist einfach großartig, eine ganz tolle Frau. Aber wem sag ich das, he?“ Er stupst mich in die Seite.
Ich nicke nur.
„Aber das Beste vom Besten hab ich euch noch gar nicht erzählt!“, tönt Marthas freudig aufgeregte Stimme vom Sofa herüber. „Juri hat eine eigene Kollektion für mich entworfen! Also … nicht für mich allein, auch für andere Frauen mit meiner Figur. Eigentlich war es Sascha, der die Sache angestoßen hat. Aber bei Juri hat es sofort ‚klick‘ gemacht. Er hat sich da mit ganzem Einsatz reingehängt. Ich mußte echt aufpassen, daß er sich auch noch um seine normale Kollektion kümmert. Aber der Hammer ist – seine Entwürfe sind sooo gut, daß selbst Mosch, der erst abgewinkt hat, weil der nur auf Hungerhaken steht, plötzlich doch noch Interesse hat. Dumm für ihn, daß er nicht der Einzige ist.“ Martha lacht.
„Kann man die Sachen irgendwo sehen?“, fragte Dana.
„Ja, auf unserer Homepage. Wir haben eine kleine Agentur gefunden, die auch mollige Models vermitteln und ein Shooting gemacht. Mosch wollte ja normale Models in der Präsentation, aber wir haben ihm was gehustet. Wär eh nicht gegangen. Wie soll ein Kleid für eine fülligere Frau an einer Bohnenstange denn vernünftig fallen?“
„Das guck ich mir doch sofort mal an.“ Kim steht auf und holt ihren Laptop. „Wo find ich das denn?“
„Warte … hier.“
„Okayyyyy … also der Schnitt macht schon was aus.“
„Komm! Ich weiß, daß du eigentlich meinst, Dicke können nicht sexy aussehen, egal, was sie anhaben.“
„Ja … nein! Ich meine …“
Emilio grinst mich entschuldigend an.
Ich bleibe gelassen. Ich erinnere mich durchaus daran, daß Kim auch zu den Frauen gehörte, die abwertende Sprüche über Marthas Figur gemacht haben. Aber ich glaube nicht, daß Martha hier meinen Beistand braucht. Das merkt man schon an Kims verlegenem Gestammel.
Wortlos hole ich mein Handy raus, suche das Bild, das ich von Martha in dem sexy Abendkleid gemacht habe und reiche es Emilio.
„Wow!“, macht der nur.
„Kann ich auch mal sehen?“, fragt Thomas neugierig.
Emilio reicht das Handy weiter.
„Ui!“ Auch Thomas ist offenbar beeindruckt. „Dana?“
„Ja, Papa?“
„Guck mal hier, deine Cousine.“
Dana kommt zu uns, wirft einen Blick auf das Handy und … sagt erstmal lange gar nichts. Dann … „Das ist … umwerfend. Martha, du … siehst einfach wunderschön und seeehr sexy aus.“
„Zeig mal.“ Auch Kim will das Bild sehen. „Wow! Das sieht ja richtig rassig aus. Steht dir wirklich. Ehrlich, sowas solltest du öfter tragen.“
„Also, das … ist echt nichts für den Alltag. Aber wenn Juri und ich wieder zu einer Fashion-Show fahren … das wäre der richtige Anlaß. Aber das hier ist doch auch schön, oder?“ Martha steht auf und dreht sich.
„Das hat auch Juri gemacht?“, fragt Marlene.
„Wir zusammen. Juri … das Alltägliche ist nicht seins. Er hat’s mir zuliebe versucht und wäre fast daran verzweifelt. Ich will nicht, daß er sich verbiegt. Deshalb hat nur den Schnitt entworfen, das andere ist von mir.“
„Also, ich find’s superschick.“ Marlene scheint wirklich angetan zu sein.
„Und du machst jetzt eine ganze Linie in dem Stil?“, fragt Thomas mich.
„Ja. Mit Martha zusammen. Die Modelle sollen nicht nur für sie sein, sondern auch etwas von ihr haben.“, greife ich auf, was Martha gerade ihren Cousinen gesagt hat. „Ich will sie in jedem einzelnen Modell wiedererkennen können. Martha ist so einzigartig, so unverwechselbar …“
„Junge, du klingst sowas von unheilbar verliebt! – Auf euch beide und den Erfolg eurer neuen Kollektion!“ Emilio hebt seinen Kaffeebecher.
„Darauf trinke ich auch.“, meint Thomas.

Nach dem Essen schlägt Marlene vor, ins No Limits zu gehen. Dort gäbe es eine Weihnachts-Party.
Ich fühle mich träge und habe nicht viel Lust auf noch mehr Menschen. Aber ich will Martha nicht den Spaß verderben und sie scheint sich darauf zu freuen, noch ein paar Freunde und Bekannte zu treffen.
„Paß mal auf! Wir hocken uns irgendwo abseits und trinken schön einen.“ Emilio hat mir den mangelnden Elan angemerkt.
„Sorry, aber ich muß fahren.“
„Stimmt, ihr seid ja mit dem Auto hier. Müßt ihr denn unbedingt heute wieder zurück?“
„Es wäre nicht fair, daß Sascha und Denise sich morgen alleine um den Laden kümmern.“
„Denise?“
„Das ist die Frau, die unser Ladenschild entworfen hat. Sie und Sascha sind fest zusammen.“
„Hat sich für Sascha ja echt gelohnt, der Umzug nach Berlin. ‚Ne steile Karriere als Model und die Frau für’s Leben, was?“
Martha kommt zu mir, küßt mich zärtlich und meint dann: „Sascha hat grad angerufen. Sie sind auf dem Rückweg. Und wenn wir noch bleiben wollen, kümmern sie sich morgen um den Laden.“
Was für ein Zufall.
„Du möchtest noch bleiben, hm?“
„Ja, schon. Aber nur, wenn es dir recht ist. Ich meine, sag bitte offen, wenn es genug ist.“
Sie ist so lieb. Aber im Moment fühle ich mich zwar etwas müde, aber nicht überfordert. Und die nötige Zeit für mich allein hole ich nach.
„Emilio hat mich aufgefordert, einen mit ihm zu trinken. Das könnte ich machen, wenn wir noch bleiben.“
„Dann ist das okay für dich?“
„Mhh, ist es.“
Sie küßt mich erneut. Und sehr innig.

Eine halbe Stunde später sind wir im No Limits.
Martha und ich sehen uns an.
Mit dem Laden verbinden wir einige gemeinsame Erinnerungen. Lustige wie weniger erfreuliche.
„Ich weiß noch, wie ich mit Kim hier saß und ihr gerade erklärte, wie man den perfekten Kiba-Shake macht, als du mich plötzlich von hier weggeschleift hast.“ Martha lächelt mich an.
„Du weißt ja, wie das ist. Man ist auf der Suche nach etwas und findet es plötzlich da, wo man gar nicht damit gerechnet hat.“
„Ich war so glücklich, daß ich dir helfen durfte. Ich kam mir neben dir … na ja, so akzeptiert vor. Als Künstlerin, meine ich. Juri Adam, der angesagte Star-Designer läßt sich von einer kleinen Näherin helfen.“
„Du …“
„Moment, laß mich ausreden. Ich hab das immer an dir gemocht. Daß du da nie einen Unterschied gemacht hast. Ich weiß, du hast das gesagt … also, gleich am Anfang … daß du auf Hierarchien scheißt. Aber das waren eben nicht nur leere Worte.“
„Martha!“
„Oh … ich sollte weniger reden und dich mehr küssen, nicht?“
Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und wir küssen uns lang und innig.
So lang, bis wir gestört werden.
„Sieh an, der verlorene Sohn kehrt heim. Oder ist er nur auf Besuch?“
Etwas widerwillig löse ich meine Lippen von Marthas.
Ah, Tristan.
Wir reichen uns die Hände.
„Wir sind nur zu Besuch bei Marthas Familie.“
„Schade. Aber ich hab auch nicht erwartet, daß du zurückkommst. Euer Laden läuft gut, hm?“
„Wir sind zufrieden.“
„Das denk ich mir. … Alexa ist ziemlich angepißt von eurem Erfolg. Sie hat gehofft, daß ihr im Nu pleite seid und reumütig wieder angekrochen kommt. Ich fürchte, diese Schlappe muß sie hinnehmen.“
„Sie ist ja selbst schuld. Hätte sie nicht meine Accessoires unter ihrem Label rausbringen wollen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, zu kündigen und mich selbstständig zu machen.“
„Ach, so war das? Wußte ich gar nicht. Dumm gelaufen.“
Martha und ich können uns das Grinsen kaum verkneifen.
„Was wollen die denn hier?“, keift es plötzlich.
Wenn man vom Teufel spricht …
„Und? Habt ihr euren Laden schon ruiniert?“
„Das Theater kannst du dir sparen, Alexa. Die beiden wissen, daß du weißt, daß von einem Ruin keine Rede sein kann.“
„Schmeiß sie raus. Ich will sie hier nicht sehen.“
„Sorry, Liebling. Diese Party habe ich organisiert. Und es ist keine geschlossene Veranstaltung.“
„Darüber reden wir noch.“ Wütend rauscht sie ab.
„Macht euch nichts draus. Die Stutenbissigkeit ist bei ihr normal.“
Martha und ich grinsen noch mehr.
„Was wollt ihr trinken? Ich geb einen aus.“
Wir stoßen mit Tristan an, dann entschuldigt er sich und wir sind wieder für uns. Doch nicht lange.
„Hi! Dana hat mir gesagt, daß Maxis Patentante da ist.“
"Hallo Jessica!“
Die beiden umarmen sich fröhlich quietschend.
„Da ist ja der kleine Schatz!“
Ich sehe zu, wie Martha den Kleinen herzt.
„Und? Kriegst du da Vatergefühle?“ Emilio ist neben mir aufgetaucht.
„Was?“
„Noch nie drüber nachgedacht, hm? – Komm, wir setzen uns da rüber.“
Eine Weile schweigen wir und sehen dem munteren Trubel zu.
Ich und ein Kind … jeder, der mich kennt, würde das für total bescheuert halten. Ich komm ja kaum mit mir selbst klar.
„Weißt du … daß das mit Martha und mir klappt … dafür muß ich mich immer noch anstrengen, an mir arbeiten. Solange ich damit noch Mühe habe … glaube ich, ist ein Kind keine gute Idee.“
„Da hast du schon Recht. Sowas sollte man sich gut überlegen und nichts überstürzen. War auch nur so eine Frage, weil Martha ja ganz offensichtlich Kinder mag.“
Wir sehen beide rüber zu dem Tisch, an dem Martha mit Dana, Jessica und Ricardo, dem Arzt sitzt. Martha hat ihr Patenkind auf dem Schoß und strahlt.
Ich habe keine Ahnung, ob Martha schon mal über ein Kind nachgedacht hat. Also, ein Kind mit mir …
Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, daß sie das ernsthaft in Erwägung zieht. Also nicht jetzt schon. Ich glaube, auch sie weiß, daß das zumindest für mich noch viel zu früh ist.

Es ist eigentlich ein schöner Abend. Mit Emilio kann man sich gut unterhalten.
Der Typ, der mein Türschloß im Loft repariert hat und seine Freundin sitzen für eine Weile bei uns.
Sie ist ganz begeistert von der durch Martha inspirierten neuen Kollektion und fragt gleich, ob man die Sachen auch online bestellen könnte.
Ihr Freund guckt sie komisch an und fragt, wo sie denn bitte sowas nötig hätte.
„Hallo? Es geht hier doch nicht um Übergrößen, sondern um schicke Sachen für Frauen mit …“
„… schönen prallen Rundungen.“, werfe ich ein.
„Genau!“
Die Rothaarige ist eigentlich schlank, nur um’s Hinterteil etwas üppiger. Und warum das nicht nett betonen?
Genau das scheint ihr Kerl jetzt auch zu denken, denn er grinst breit.
Martha kommt zwischendurch vorbei und entschuldigt sich dafür, mich so zu vernachlässigen. Ich beruhige sie, daß ich mich von Emilio gut unterhalten fühle. Habe aber trotzdem nichts dagegen, daß sie sich eine kleine Weile auf meinen Schoß setzt und wir ein paar Zärtlichkeiten austauschen können.
Martha will sich gerade wieder zu ihren Cousinen und Jessica gesellen, als Rebecca zu uns kommt, die uns, vor allem Martha, sehr herzlich begrüßt.
Und natürlich alles über unseren Laden wissen will.
„Ein bisschen was bekomme ich über Marlene mit, die wiederum von Dana hie und da was erzählt bekommt und natürlich hab ich mir eure Seite angeschaut … aber ich würd‘ schon gerne was mehr wissen.“
Marthas Stichwort.
Sie erzählt und erzählt und erzählt und ihre Wangen glühen wieder vor Eifer.
Emilio grinst mich an und prostet mir zu.
Richtig interessant wird das Gespräch mit Rebecca, als sie berichtet, daß ihre Stiefmutter und deren beste Freundin mit ihrer Idee, sexy Dessous für reife Frauen rauszubringen, auf wenig Begeisterung stoßen. Rebecca hat schon einige Entwürfe und Modelle fertig, aber es fehlt an Möglichkeiten zur Vermarktung.
Martha ist sofort Feuer und Flamme. Wenn schon Mode für Moppel, warum dann nicht auch Dessous für …
„Finchen und Co.“ Ich fahre mir durch die Haare und verdrehe die Augen.
„Was denn? Finchen ist so cool drauf, die würde sowas garantiert tragen.
Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.
Und schon sind die beiden Frauen in einer angeregten Diskussion, wie da zu helfen sei.
Martha würde die Dessous gerne in unserem Laden anbieten. Und die Möglichkeit, online einzukaufen, will sie eh mit Denise‘ Hilfe noch ausbauen.
„Ich … äh … möchte das aber nicht unter dem Label ‚Korolok‘ sehen.“
„Ach, Juri, natürlich nicht. Dein Name wird nur auf Sachen stehen, die auch von dir stammen, das ist doch klar. Es geht doch nur darum, die Dessous bei uns anzubieten und sie damit bekannter zu machen. Was da für ein Label drauf soll, darüber werden sich Elisabeth, Charlie und du schon selbst Gedanken machen, nicht?“
Rebecca nickt. „Ich ruf Charlie mal eben an. Vielleicht hat sie Lust, vorbeizukommen. Wenn nicht, gebe ich ihr auf jeden Fall eure Kontaktdaten, sie meldet sich dann ganz bestimmt.“
„Würd‘ mich riesig freuen.“, strahlt Martha.
Tatsächlich kommen sogar beide Frauen eine Stunde später zu uns. Rebeccas Stiefmutter Elisabeth habe ich vor längerer Zeit mal kennengelernt, als wir ein Fotoshooting auf dem Schloß der Lahnsteins hatten. Und Charlie ist die Mutter der Rothaarigen.
Ich beteilige mich nicht an dem angeregten Gespräch. Aber die Dessous sehe ich mir interessiert an. Und die sind nicht übel. In einigen davon könnte ich mir Martha gut vorstellen. Und ein oder zwei würden sogar gut zu meinen eigenen Modellen passen …
Ich besorge mir Papier und fange an, ein paar Ideen zu skizzieren.
Später unterhalte ich mich noch ein wenig mit Rebecca und bemerke erneut, daß sie sich danach sehnt, aus dem LCL-Käfig auszubrechen …

Martha fällt es schwer, sich von ihren Freunden zu verabschieden.
Marlene und Rebecca versprechen, morgen zum Frühstück vorbeizuschauen, bevor sie zur Arbeit müssen.
Als wir eine Weile später im Bett liegen, ist Martha noch ganz aufgedreht und plaudert munter über die Dessous-Idee.
Bis ich ihr den Finger auf die Lippen lege, sie an mich ziehe und zärtlich küsse. Da seufzt sie nur noch zufrieden, kuschelt sich dicht an mich und so schlafen wir ein.

Der Abschied von ihrer Familie fällt Martha noch schwerer. Wie ihre Eltern würde sie sie am liebsten alle einpacken und mitnehmen.
Es dauert auch eine ganze Weile, bis sie alle geknuddelt hat.
Was mich angeht … der ganze Trubel war nicht so schlimm für mich wie befürchtet … und trotzdem freue ich mich jetzt auf die ruhige Autofahrt. Martha wird bald still werden, das weiß ich.
Und ich hab Zeit, meine Gedanken zu sortieren.

Kapitel 20

Martha wird noch früher still, als ich dachte. Ich hatte erwartet, daß sie wenigstens eine halbe Stunde noch aufgedreht schnattern würde, aber sie meint nur „Es war so schön, sie alle mal wieder gesehen zu haben.“
Dann legt sie mir ihre linke Hand auf’s Bein, den Kopf leicht auf die Seite und schließt die Augen. Offenbar möchte auch sie erstmal ihre Gedanken und Gefühle ordnen.
Vielleicht ist sie auch einfach nur müde.
Ich seufze zufrieden und bin glücklich, Martha wieder für mich allein zu haben. Auch wenn sie einfach nur neben mir im Wagen sitzt.
Und ich bin erleichtert, daß Weihnachten nun hinter mir liegt.
Nicht, daß ich bereuen würde, das alles an mich rangelassen zu haben. Aber einfach war es nicht. Noch vor wenigen Monaten hätte ich das nicht durchgestanden. Hätte mich verweigert, komplett dichtgemacht.
Weil einfach zuviele Emotionen auf mich einstürmen.
Die Erinnerungen an Weihnachten zuhause bei meinen Eltern … es war gut, es war richtig, das zu teilen. Mit den Menschen, die mir am nächsten sind.
Gegenüber Marthas Eltern von meiner Vergangenheit zu sprechen … auch das war gut. War richtig. Ich weiß, die Zeiten, wo man beim Vater der Auserwählten um deren Hand anhalten mußte, sind vorbei; Martha und ich brauchen den Segen ihrer Eltern nicht. Aber Martha wäre sehr unglücklich, wenn ich mich mit ihren Eltern nicht verstehen würde. Daß sie mich akzeptieren, obwohl sie nun wissen, daß ich … Probleme habe, nicht einfach bin … das ist … das erleichtert mich. Martha und ihre Eltern … sie haben vieles gemeinsam. Ihre Aufgeschlossenheit … und viel Wärme.
Ich denke, vor dem nächsten Treffen mit Peter und Gisela werde ich ruhiger sein.
Düsseldorf … ich vermisse es nicht. Auch die Menschen dort nicht. Keiner steht mir wirklich nahe. Dana ist lieb und nett, Emilio ist okay. Ich freue mich, daß Martha glücklich war, daß sie Spaß hatte. Für mich wäre das alles entbehrlich gewesen. Allerdings … für die Anregungen, die ich durch die Dessous bekommen habe, hat es sich doch gelohnt, den Trubel zu ertragen.
Kurz vor Berlin wird Martha wieder munter. Sie ruft Sascha an, daß wir gleich da sind.
Und so warten Sascha und Denise unten im Laden auf uns.
Martha fliegt Sascha um den Hals, während Denise und ich uns herzlich, aber ein wenig zurückhaltender begrüßen.
„Danke, daß ihr euch heute um den Laden gekümmert habt.“ Martha drückt nun auch Denise.
„Kein Thema, haben wir gern gemacht.“, winkt Sascha ab. „Na, Alter, alles gut überstanden?“, fragt er mich, nachdem auch wir uns zur Begrüßung umarmt haben.
„Obwohl es nicht so schlimm war, wie ich befürchtet habe, bin ich doch sehr froh, es hinter mir zu haben.“, gestehe ich.
„Und wie war es bei euch? Erzählt doch mal!“, fragt Martha ungeduldig.
„Laßt uns doch erstmal raufgehen. Kaffee ist fertig und Sascha und ich haben Kuchen gebacken.“
Wir vier sehen uns an, Martha fängt an zu kichern.
„Ja, nee, also nicht das, was ihr jetzt denkt.“, grinst Sascha.
„Was denken wir denn?“, grinse ich auch.
„Also, erstens haben wir das so nebenbei gemacht, denn wir hatten ja schließlich den Laden offen, schon vergessen? Also war gar keine Zeit für so ‚ne Backorgie. Und zweitens … geht euch das gar nichts an, Mann. Erzählt ja nicht jeder so freimütig Details aus seinem Sexleben rum, wie ihr.“
„Weil’s nix zu erzählen gibt?“ Ich ducke mich vorsorglich.
„Morgen Abend ist wieder Training im Boxclub, also paß auf, was du sagst.“
Ich lege ihm den Arm um die Schulter. „Wie war das mit dem Kaffee? Ich könnt‘ jetzt einen vertragen. Und dann erzählst du, wie es bei Denise‘ Eltern war.“
Zwei Minuten später sitzen wir in unserer Küche zusammen.
„Also, eigentlich war das ganz easy. Ihre Eltern haben ein bisschen geguckt wegen meiner Tattoos, als ich meine Ärmel hochgerollt habe, weil es drinnen so warm war. Sind aber keine Leute, die meinen, einer mit Tattoos müsse automatisch ein Schläger oder sonstwie kriminell sein.“
„Und daß du dich früher nicht immer ganz ans Gesetz gehalten hast, haben wir einfach vergessen, zu erwähnen.“, grinst Denise.
„Das war eh nix Großes. Echt nicht so schlimm, wie wenn so Firmenbonzen ganze Millionen am Staat beiseiteschaffen. Ich fühl mich nicht kriminell, weil ich versucht habe, irgendwie klarzukommen, ohne jemanden groß auf der Tasche zu liegen. Ich klau keiner Omi die Handtasche für ‚n paar Kröten oder zock Leute an der Haustür ab.“
„Das wissen wir.“, bemühe ich mich, daß Sascha wieder runterkommt.
„Du bist ein feiner Kerl.“ Martha steht auf und drückt Sascha einen Schmatz auf die Wange.
„Meine Eltern sind nicht wirklich spießig, aber sie brauchen ein bisschen länger, um sich an Neues zu gewöhnen. Und Sascha unterscheidet sich doch vom Typ her von den Kerlen, die ich sonst mitgebracht habe. Aber sie haben sich trotzdem ganz gut verstanden.“ Denise schneidet sich ein Stück Kuchen ab. „Ich glaube, sie waren ziemlich beeindruckt, daß wir mit euch einen Laden führen und von dem, was hier so alles zu tun ist. Und …“, Denise prustet und verschluckt sich, „ihr hättet die Reaktion meiner Mutter sehen sollen, als sie hörte, daß Sascha unser Model ist.“
„Ja, die hat auch geprustet vor Lachen. Fand ich gar nicht komisch.“ Sascha verschränkt gespielt beleidigt die Arme vor der Brust.
„Na, sie dachte halt, daß als Models nur so Schönlinge genommen werden.“
„Bin ich häßlich oder was?“
„Quark. Aber eben … ein eher herber, kerniger Typ.“
„Und genau das, was ich will.“, mische ich mich in das Gespräch ein.
„Alter, ich wußte, du stehst auf mich.“ Sascha grinst mich frech an, das Beleidigtsein hat sich wohl erledigt.
„Glaub, was du willst, du Spinner.“
„Meine Mutter hätte sich eher Juri auf dem Laufsteg vorstellen können.“, nimmt Denise den Gesprächsfaden wieder auf.
„Ich bin auch kein Schönling.“ Ich weiß, daß ich gut aussehe, aber das ist nichts, was ich mir erarbeitet habe, worauf ich stolz sein könnte und deswegen ist es mir auch nicht wichtig. „Jedenfalls will ich keiner sein.“
„Du weißt genau, daß du verdammt gut aussiehst. Aber ich weiß, worum es dir geht. Schönling … das assoziiert man mit Oberflächlichkeit. Und obwohl dir im Prinzip egal ist, was die Menschen von dir denken … du bist Künstler … du willst nicht für oberflächlich gehalten werden … dann würden die Leute in deinen Designs keine Aussage mehr sehen … auch deine Mode würde dann für oberflächlich gehalten …“
Es ist wieder mal unglaublich, wie haargenau sie erfaßt, was ich denke. Nein, sie formuliert meine Gedanken sogar viel präziser als ich selbst. Schlagartig fällt mir etwas ein, was sie mal über ihren imaginären Internetfreund erzählt hat … daß er weiß, was sie fühlt, noch bevor sie es denkt … genau das schafft sie bei mir.
Der ganze Schmus von wegen bessere Hälfte, Ergänzung, Komplettierung des Partners … das ist kein Unfug, das gibt es wirklich. Es mag selten sein … aber Martha macht mich wirklich besser, sie ergänzt mich perfekt, weil sie alles hat, was mir fehlt. Und ich hoffe sehr, sie fühlt wenigstens ein bisschen ähnlich.
Ich nicke Martha zu und erkundige mich dann, ob heute was gewesen ist, was wir wissen sollten.
„Ja, da kam ein Fax von Mosch, wie es mit seinen versprochenen Entwürfen aussieht. Offenbar meint der alte Schleimer, daß du kein Privatleben hast und auch an Weihnachten arbeitest.“ Sascha verzieht das Gesicht.
„Na ja, Künstler haben ja auch keine geregelten Arbeitszeiten.“, meint Martha.
„Im Prinzip hat Mosch Recht. Wäre mein Problem, wenn ich auf der faulen Haut gelegen hätte und jetzt nicht liefern könnte.“
„Haste aber nicht.“, freut sich Martha.
„Genau, hab ich nicht. Ist alles fertig. Nur noch mal drüberschauen und dann sehen wir mal, wie’s dem alten Schleimer gefällt.“
Nun erzählt Martha, wie die letzten beiden Tage verlaufen sind.
Sascha läßt es sich nicht nehmen, uns gleich das Türschild anzubringen, das wir von Marthas Eltern bekommen haben.
„Ach ja … ich hab auch noch was für euch.“, Sascha verschwindet kurz, ist aber nach wenigen Augenblicken wieder da.
„Könnt ihr überall aufhängen. An der Küchentür zum Beispiel.“
Es ist ein „Bitte nicht stören!“-Schild.
Wir müssen alle lachen.
Weder Denise noch Sascha fragen, wie es mir genau bei Marthas Eltern ergangen ist. Ich bin ihnen dankbar dafür. Daß es keine Katastrophe war, können sie sich denken, sonst wären Martha und ich sicher anders drauf. Außerdem habe ich bei der Begrüßung ja angedeutet, daß es nicht so schlimm war wie befürchtet. So habe ich Zeit, das alles erstmal sacken zu lassen. Später sollen sie es dann ruhig wissen, ich will kein Geheimnis draus machen.
Die beiden sind auch so rücksichtsvoll, uns nach dem Kaffeetrinken allein zu lassen.
Martha pusselt ein wenig herum und freut sich, daß auch heute, also nach Weihnachten, noch etliche ihrer weihnachtlichen Accessoires über die Theke gingen.
Und ich mache mich an Moschs Entwürfe, arbeite noch wenige Details aus, bin dann zufrieden und faxe die Entwürfe Mosch gleich rüber.
Keine Stunde später kommt schon Antwort. „Mein lieber Herr Adam, ich gestehe es etwas widerwillig, aber Sie haben sich wieder selbst übertroffen. Ich bin begeistert. Lassen Sie uns morgen telefonieren, um über den Preis zu reden. Ich bin sicher, wir werden uns einig.“
Martha grinst breit, als ich ihr Moschs Antwort zeige.
Und dann ist Schluß, Martha und ich legen uns erst in die Wanne zum Entspannen und dann ins Bett, um einfach nur zusammengekuschelt zu schlafen.
Weihnachten ist echt anstrengend.
Der nächste Tag ist ein Samstag und so sitzen wir am Nachmittag nach Ladenschluß gemütlich zusammen – Josie, Janine und Finchen sind auch mit dabei.
Martha erzählt triumphierend, daß ich meine brandneuen Entwürfe heute erfolgreich an Mosch verkauft habe.
„Du machst dich langsam als Geschäftsmann.“, lobt sie mich.
„Die Entwürfe sind einfach verdammt gut geworden und ich hab nicht eingesehen, die wie Wühltischware zu verscheuern.“
„Richtig so.“, stimmt Josie mir bei. Sie und Janine haben heute begonnen, die Modelle zu nähen, nachdem Martha die Schnittmuster fertig hatte.
"Wenn dieser Mosch was Extravagantes anbieten will, muß er schon mal ein paar Kröten locker machen.“, stimmt auch Finchen zu.
„Schade, daß ihr euch noch nicht kennt, Mosch und du.“, kichert Martha.
Mosch kann fies sein, das weiß ich, aber ich frage mich, ob er sich an Finchen nicht die Zähne ausbeißen würde.
„Was machen wir eigentlich an Silvester?“, fragt Sascha.
„Haben wir noch gar nicht drüber nachgedacht.“, meint Martha.
Sie sieht mich an und ich bin sicher, sie spürt gleich, daß mir nicht nach groß feiern ist. Nicht nachdem ich grade erst Weihnachten überstanden habe.
Dabei habe ich durchaus Grund, mich auf das neue Jahr zu freuen. Und es wäre auch angemessen, mich beim alten Jahr zu bedanken, denn es hat mir Martha gebracht.
Aber das … würde ich lieber mit Martha alleine tun.
„Im Boxclub machen sie ‚ne kleine Party.“, erzählt Sascha.
Die Leute im Club sind nett, aber …
„Wie wär’s, wenn wir unter uns bleiben, wir hier, die wir den Laden schmeißen. Also quasi eine Familienfeier?“, schlägt Martha vor. Dann beugt sie sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: „Wir können uns gerne kurz vor Mitternacht zurückziehen. Ich wär dann auch lieber mit dir allein.“
Ich kann nicht anders, als sie lang und innig zu küssen.
„Ich hab so das Gefühl, ihr plant da grad ein besonders intimes Neujahrsfest.“, grinst Sascha, aber ich merke an seinem Blick, daß er ahnt, um was es uns wirklich geht.
„Soll dann einfach jeder was mitbringen?“, bringt Josie das Gespräch wieder auf’s Thema.
Und darauf einigen wir uns dann auch – kleine Feier bei uns.
„Ich hoffe, ihr knallt nicht. Ich kann den Lärm echt nicht ab. Reicht mir schon, daß die Nachbarn versuchen, das ganze Viertel in die Luft zu jagen.“, brummt Finchen.
Ich glaube, wenn einer von uns Lust auf Feuerwerk gehabt hätte, würde er es jetzt nicht mehr wagen, zu gestehen.

„Hast du Lust, heute mal in den Boxclub mitzukommen? Ich hab gehört, Denise geht auch mit.“, frage ich Martha.
„Ich weiß nicht … ich hab nicht grad soooo gute Erinnerungen an Boxclubs. Das erste Mal hab ich zugesehen, wie du wie von Sinnen auf deinen Gegner eingeschlagen hast …“
„Meinst du, da bin ich stolz drauf?“
„Nein. Nein, natürlich nicht. … Beim zweiten Mal … da hab ich dich da gesucht, weißt du, als du verhaftet wurdest … auch nicht unbedingt eine schöne Erinnerung. … Dann das Grillfest … wo ich zusehen mußte, wie du dich mit Sascha prügelst … und dann …“
Ich sehe sie bittend an. Ich weiß, was beim nächsten Mal war …“
„Ich weiß, das hier, dieser Club … hat damit gar nichts zu tun. Aber …“
„Wenn du nicht möchtest … ich verstehe das. Aber die Leute da sind wirklich nett. Und obwohl ernsthaft trainiert wird, ist die Atmosphäre entspannt und freundschaftlich.“
„Ja … ja, vielleicht sollte ich einfach mal mitkommen. Sicher toll, schwitzende, halbnackte Kerle zu beobachten, die sich gegenseitig auf den Kopf hauen.“
Wie Martha das so sagt, klingt das nicht sehr schmeichelhaft. Ich fahre mir durch die Haare und versuche, eine überzeugende Entgegnung zu finden.
„Andererseits … finde ich ja, daß das Training dir schon gut tut …“ Bei diesen Worten fährt sie mit den Händen unter mein Shirt und über meine Brustmuskeln.
„Ahaaaa!“, triumphiere ich. Und ziehe sie ruckartig an mich, um sie zu küssen, nicht sanft und zärtlich, sondern leidenschaftlich und verlangend.
Und ganz plötzlich fällt mir ein, daß ich seit vier Tagen nicht mit Martha geschlafen habe … Heiligabend hatten wir keinen Sex, bei Marthas Eltern und in Düsseldorf auch nicht. Und gestern waren wir wohl zu müde.
Also sowas ist noch nie vorgekommen, seit Martha und ich zusammen sind!
Aber daran erkenne ich wieder, wie sehr mich die letzten Tage emotional angestrengt haben.
Nun, wo das hinter mir liegt, kann ich aber keinen Moment länger warten.
„Ich will dich. Jetzt.“, hauche ich ihr ins Ohr und ziehe sie mit mir in unser Schlafzimmer.
„Zu lange her, hm?“, seufzt sie sehnsüchtig, als sie mir mein Shirt abstreift und ihre weichen Lippen über meine Haut wandern läßt.
Schön, daß auch sie den Sex mit mir vermißt hat.
Ausgiebig und genüßlich holen wir das Versäumte nach.
„Dabei ist Weihnachten eigentlich das Fest der Liebe, nicht?“, kichert sie hinterher und kuschelt sich eng an mich, eine Hand auf meiner Brust. „Müde? Nicht, daß Sascha dich gleich einfach weghaut.“
Das würd‘ ich hinnehmen angesichts dessen, was ich grad erleben durfte.
Dann sind wir im Club.
Martha und Denise werden freundlich begrüßt. „Schön, daß ihr mal mitkommt.“, heißt es.
Ich stelle Martha Zdravko, unseren Trainer, vor.
„Der erinnert mich irgendwie an den netten Barkeeper in dieser Balkan-Disco.“, meint Martha.
„Der, mit dem du immer geflirtet hast?“
„Hab ich gar nicht. Der hat mich mit Sljivovic trösten wollen, weil er sofort kapiert hat, daß ich in dich verliebt bin. Jeder hat das gleich gemerkt … Dana, Nicole, Thomas und Viktoria … manchmal dachte ich, ich hab das auf der Stirn stehen ‚Hallo! Ich bin in Juri Adam verknallt!‘.“
„Nur ich Trottel hab’s nicht gemerkt.“
„Du hattest ja auch vom Verliebtsein keine Ahnung.“, kichert sie.
„Stimmt.“
Dann wärmen Sascha und ich uns auf.
„Sehen schon gut aus, unsere Jungs, nicht?“, schnappen wir von Denise auf, als wir in ihre Nähe kommen. „Nette Muckis.“
Sascha und ich grinsen uns an.
Kurz darauf ist Schluß mit Grinsen, Zdravko schickt uns in den Ring und Freundschaft hin oder her, er verlangt Disziplin und vollen Einsatz.
Zum Glück hat mich der Sex mit Martha eher motiviert als ausgepowert und ich mache es Sascha nicht leicht.
Am Schluß sind wir alle zufrieden, auch unser Trainer.
Als ich merke, wie Martha meinen Oberkörper begehrlich mustert, lasse ich mir sehr viel Zeit, die Bandagen von meinen Händen zu wickeln.
Sascha stupst mich an. „Hey, den Ausdruck in deinen Augen kenne ich.“
„Verpiß dich und nimm Denise mit.“, knurre ich.
„Viel Spaß, Alter! Vergiß nicht, das Licht auszumachen.“
„Hau endlich ab, Mann!“
Dann sind alle weg.
„Willst du nicht mal duschen?“, fragt Martha, aber ich bin sicher, sie weiß, warum ich so getrödelt habe.
„Doch. Magst du zusehen?“
Ich lasse die Jogginghose fallen, unter der ich wie üblich sonst nichts trage und gehe rüber zur Dusche.
Martha stellt sich in die Tür und sieht mir zu, wie ich mich einseife.
Ihre Mimik spricht eine sehr deutliche Sprache.
Tropfnaß wie ich bin, fange ich an, sie langsam auszuziehen.
Als ich mich eine Weile später wieder anziehe, grinsend, weil Martha vor sich hin murmelt, ich hätte ihre Sachen naß gemacht, finde ich eine SMS von Sascha auf meinem Handy: „Sind beim Mexikaner. Ihr könnt ja noch kommen. Aber seid ihr sicher schon. *grins*“
Ich zeige die SMS Martha.
„In der Tat.“, lacht sie. „Aber Hunger hab ich. Und Mexikaner ist immer gut. Können wir füßeln.“
„Ich weiß nicht. Du stammelst nicht mehr, wirst nicht mehr rot. Macht nicht mehr soviel Spaß wie früher.“
„Boah, du frecher Kerl!“ Sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände und küßt mich, bis ich nach Luft schnappe.
Kurz darauf sind wir beim Mexikaner, genießen Saschas und Denise‘ anzügliches Grinsen und lassen den Tag gemütlich ausklingen.
Dann ist der letzte Tag dieses Jahres angebrochen.
Große Vorbereitungen müssen wir nicht treffen. Schon gar nicht an Dekoration, denn sowas wie Luftschlangen finden wir alle albern.
Martha macht ein, zwei Salate zurecht, Sascha und Denise werden natürlich Ražnjićimitbringen. Josie hat vorgeschlagen, im Hinterhof zu grillen, Finchen war gleich begeistert davon.
Mich schickt Martha raus an die Luft. „Du stehst ja doch die ganze Zeit hinter mir und machst mich verrückt.“
Ich lege einen Arm um sie, mit der anderen Hand streiche ich ihre Haare im Nacken sanft nach oben und will gerade meine Lippen ihre weiche Haut liebkosen lassen, als sie meint: „Ja, genau so! So kann ich nicht … Mann, Juri!“
Ich habe ein Einsehen und nach einem langen, intensiven Kuß verkrümele ich mich und gehe eine Runde laufen.
Eigentlich ist es gut, daß Martha mich aus den Füßen haben will … ich möchte ja für Mitternacht noch was vorbereiten …
„Irgendwas hast du vor, Alter, hm?“, spricht Sascha mich später an. Ich überlege, daß es klug wäre, ihn einzuweihen.
„Sascha … ich will mit Martha um Mitternacht allein sein. Das ist ein besonderer Moment für mich, verstehst du? Das letzte Jahr … das hat alles für mich verändert. Martha …“
„Brauchst nichts weiter sagen, mein Freund. Ich versteh dich sehr gut. Find ich sogar gut, daß dir Martha in dem Moment das einzig wirklich Wichtige ist. Ihr wird’s auch gefallen, dich dann ganz für sich zu haben. Könnt ihr in Ruhe in Erinnerungen schwelgen und euch auf das freuen, was euch noch erwartet.“
Er versteht mich wirklich.
„Willst du irgendwas Romantisches machen?“
„Steht Martha da drauf? Wenn ich an meinen Heiratsantrag denke …“ Ich fahre mir durch die Haare. „Ich glaub, ich hab das Romantischsein nicht wirklich gut drauf.“
„Scheißegal, Alter! Du weißt, daß Martha dich so liebt, wie du bist und gar nicht will, daß du dich verbiegst. Auch nicht ihretwegen.“
„Also reichen ein paar Kerzen? … Ich dachte, ich könnte mich mit Martha hier im Laden einkuscheln … immerhin ist dieser Laden unsere Zukunft.“
„Hm, ja … der Laden im Kerzenschein, ‚ne warme Decke zum Kuscheln, Schlückchen Sljivo zum Anstoßen … ich glaub, mehr braucht Martha nicht, um glücklich ins neue Jahr zu kommen … okay, wär natürlich besser, du bist auch dabei.“
Ich ziehe ihm seine Mütze über die Nase.
„Ey, hab ich was Falsches gesagt?“, lacht er und sorgt dafür, daß er wieder was sehen kann.
„Okay, halt die anderen vom Laden fern, ja?“
„Schließt euch dann einfach ein.“
„Mach ich.“
Obwohl ich Martha nun wirklich nichts Spektakuläres bieten werde, bin ich irgendwie nervös.
Ich mache eine Ecke im Laden frei, werfe Iso-Matten dahin, hoffe, daß Martha nicht bemerkt, daß unsere Sofakissen verschwunden sind und verzweifle schon an der Anordnung der Kerzen. Irgendwann habe ich die so drapiert, daß sie die Zeichnungen an den Wänden beleuchten müßten.
Ich besehe mir das Ganze und finde es sehr dürftig. Habe aber keine Ahnung, was ich ändern oder ergänzen könnte.
Hey, Martha ist nur wichtig, daß DU da bist. Alles andere ist ihr egal.
Das sage ich mir in Gedanken mehrfach vor.
Und gehe einigermaßen beruhigt wieder nach oben.
Unsere kleine Party ist ganz lustig. Es ist schön, nur vertraute Gesichter um sich zu haben.
Jeder erzählt ein wenig was, schwelgt in Erinnerungen.
Wenn wir nicht essen, halten Martha und ich uns an den Händen.
Finchen will mit uns Blei gießen. „Ist nur Firlefanz, aber macht Spaß.“
Ich überlege, ob mich die unförmigen Bleiklumpen zu neuen Entwürfen inspirieren, tun sie aber nicht. Es bleiben einfach unförmige Bleiklumpen.
Wir sind inzwischen vom kalten Hinterhof in unsere Wohnung umgezogen.
Martha hält eine kleine Rede.
„Ihr Lieben! Juri und ich … wir sind euch so dankbar, jedem von euch, daß ihr mit uns diesen Laden stemmt. Ohne euch und euren Einsatz wären wir aufgeschmissen. Ihr seid einfach toll! Und wir hoffen, daß wir alle noch lange so erfolgreich zusammenarbeiten. Also … daß wir zusammenbleiben … daß ihr uns nicht davonlauft, weil … weil euch einer besser bezahlt.“
„Kindchen, wir sind ‚ne Familie. Da läßt keiner den anderen hängen!“, ruft Finchen dazwischen.
Ich glaube ja, Finchen ist ein bisschen rührselig.
Aber Martha gefällt der Gedanke an ihre neue Familie bestimmt.
Zehn Minuten vor zwölf nehme ich Martha bei der Hand und führe sie in den Laden.
Der Schlüssel steckt schon von innen und ich sorge dafür, daß wir ungestört bleiben werden.
Dann zünde ich die Kerzen an.
„Ich hoffe, du hast nicht mehr erwartet und bist jetzt enttäuscht.“, sage ich leise.
Martha lehnt ihren Kopf an meine Brust.
„Du bist bei mir. Wie könnte ich da enttäuscht sein? Und deine Kuschelecke sieht gemütlich aus.“
Wir lassen uns auf die Polster sinken, Martha legt ihre Arme um mich.
Und so warten wir, bis die Glocken das neue Jahr verkünden.
Ich sehe Martha in die Augen und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich schlucke und schlucke und es kommt kein Ton raus. Es stürmt plötzlich alles auf mich ein … alles, was im letzten Jahr passiert ist … von unserer ersten Begegnung an … ich sehe Martha, wie sie mir klarmacht, daß sie mich besser kennt, als ich meine … sehe sie neben mir hocken und meine Hand halten, als ich ihr von jenem Tag erzähle, der ein emotionales Wrack aus mir gemacht hat … ich sehe Martha, wie sie die Augen schließt, als ich mich anschicke, sie das erste Mal zu küssen … sehe ihren Schmerz und die Tränen, als ich sie brüsk zurückweise … ich erlebe noch einmal den Moment, als ich endlich den Mut habe, ihr zu sagen, daß ich sie liebe … fühle die Verzweiflung, als nun sie mich abweist … und auch das Glück, als wir beide endlich, endlich zusammenkommen … dies alles und noch viel mehr rast in meinem Inneren an mir vorbei …
Martha hat alles verändert. Sie hat mich verändert, mein Denken, mein Fühlen.
Ich weiß nicht, wie ich das alles in Worte fassen soll. Ich glaube, das ist unmöglich.
Ich fühle soviel Dankbarkeit und unglaubliche Zärtlichkeit für sie …
„Du mußt nichts sagen, Juri. Das ist nicht nötig.“
Wir halten uns in den Armen, Martha streichelt zärtlich meinen Nacken und ich bin einfach nur glücklich.
Raketen zischen, Böller knallen, es wird gejubelt und gejuchzt … auch unsere Freunde stoßen sicher grade fröhlich an.
Aber das alles ist sehr weit weg … ich spüre Marthas Wärme … nur wir beide … genau so hatte ich mir das vorgestellt …
Ich denke an die Zukunft … was sie uns bringen mag … aber sie macht mir keine Angst. Mit Martha zusammen werde ich durchstehen, was auch immer passieren wird.
Sehr viel später – ich fühle mich so wohl und behaglich, daß ich fast schon eingedöst bin – höre ich Gläser klirren. Martha reicht mir eines.
„Auf ein glückliches und gesundes neues Jahr, für uns und alle, die wir lieben.“
Darauf trinke ich gerne.
„Und darauf, daß du weiterhin die Nerven hast, es mit mir auszuhalten.“
„Och, das ist gar nicht soooo schwer.“
Wir küssen uns sehr zärtlich.
„Wollen wir wieder raufgehen? Du möchtest sicher noch mit mir allein bleiben …“
„Nein, das ist okay.“ Ist es wirklich. Der Jahreswechsel mit Martha war, so unspektakulär er auch war, ein besonderer Moment für mich. Gerade, weil wir beide ohne Worte ausgekommen sind.

Sascha sieht mir in die Augen, als wir wieder nach oben kommen.
Auch wir brauchen keine großen Worte.
„Ein glückliches neues Jahr, Alter!“
Das wünsche ich ihm auch.
Wir umarmen uns so lange, bis Martha mich stupst und fragt, ob sie Sascha jetzt auch mal haben dürfte.
Lächelnd schiebe ich ihn zu ihr, sehe glücklich und zufrieden zu, wie die beiden sich drücken und sich alles Gute für das neue Jahr wünschen.
Kann es noch besser werden als das alte?
Kapitel 21

Bald sind wir nur noch zu viert.
Gemeinsam tauschen wir einige Erinnerungen aus.
Ich muß lachen, als Martha von ihrem völlig überfüllten Schwarm-Schwein erzählt.
„Ein Schwarm-Schwein?“, fragt Sascha, ebenfalls lachend. „Was soll das denn sein?“
„Na ja, Dana hat mir ein Spar-Schwein gegeben. Und ich sollte jedesmal, wenn ich verliebt an Juri denke, mich in seine Nähe mogle oder so, einen Euro reintun. Sie hat mir prophezeit, das Schwein würde nie voll werden. Aber das hat ja mal überhaupt nicht funktioniert.“, lacht sie. „Ich weiß noch, als du ankamst und meintest, du würdest uns Pizza bestellen und ich könnte das Kleid noch mal an der Schneiderpuppe abstech…cken … da hab ich dir ja erzählt, ich hätte Karten für irgendeine Veranstaltung.“
„Und das war genauso geschwindelt, wie daß dir die Abstecknadel nur ausgerutscht ist?“
„Hm ja …“, grinst Martha frech.
Ich muß sie küssen.
„Du wußtest das gleich, nicht? Also daß ich gelogen habe?“
„Was? Das mit den Karten oder das mit der Nadel?“
„Das mit der Nadel natürlich, du!“
„Hundertprozentig sicher war ich mir nicht. Ich meine, ich hatte das Gefühl, du hattest ziemlichen Respekt vor mir. Auch wenn du mit Bügeleisen nach mir geschmissen hast …“
„Sie hat was?“, lacht Sascha.
„Och Mann, das war ein Unfall!“, mault Martha. „Ich bin am Bügeln, da steht er plötzlich vor mir … überhaupt so eine Art von dir, urplötzlich wie aus dem Nichts aufzutauchen … jedenfalls – ich erschreck mich, stoß gegen das Bügeleisen und das fällt ausgerechnet auf seinen Fuß.“
„Ich wette, da hast du dich in sie verliebt. Auch wenn du das erst viel später gemerkt hast.“, grinst Sascha.
Ich grinse zurück. „Frauen, die mit Bügeleisen nach einem werfen, muß man lieben.“ Meine dann zu Martha: „Willst du nun wissen, ob ich dir damals geglaubt habe, oder nicht?“
„Öhm, ja.“
„Einerseits konnte ich mir nicht vorstellen, daß du mich so dreist anschwindelst. Andererseits kannte ich diese Models. Arrogant und zickig. Ich hab ja gehört, wie sie dich beleidigt hat. Und ich dachte mir, selbst wenn du mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hast – für ihre Unverschämtheiten hatte diese Zicke mehr als nur einen Pieks mit ‚ner Nadel verdient.“
Nun ist es Martha, die mich küßt.
„Und ihr beide wart auch mal kurz zusammen?“, fragt Denise Sascha und Martha neugierig.
Martha sieht mich an.
„Kannst du ruhig erzählen.“
„Na ja … also richtig zusammen waren wir nicht. Wir haben ein paar Mal …“
„Miteinander geschlafen.“, beendet Sascha den Satz. „Und dann war’s leider vorbei, bevor es richtig angefangen hatte.“
Ich kann jetzt nachvollziehen, daß Sascha das damals ziemlich weh getan haben muß.
„Es war … Juri hatte diese Panikattacke wegen … ist ja auch egal … ich hab ihn nach Hause gebracht, wollte bei ihm bleiben, bis es ihm besser geht. Und dann hat er angefangen, zu erzählen. Was damals passiert ist. Mit seinen Eltern. Irgendwann habe ich nach seiner Hand gegriffen und er hat sie gedrückt. Lange haben wir so dagesessen. Und ich hab mich Juri so nah gefühlt wie nie zuvor. … Danach … konnte ich das einfach nicht mehr, Sascha! Ich hätte nicht mehr mit dir zusammensein können, nicht nach dieser Nähe, die ich zu Juri gefühlt habe. Und es hat keinen Unterschied gemacht, daß ich mir trotzdem keine Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihm machen durfte.“
Sascha nickt verständnisvoll. „War trotzdem eine schöne Zeit mit dir, auch wenn’s nur kurz war. Ich bereu’s nicht.“
„Ich auch nicht. Dank dir hab ich mich nach langer Zeit mal wieder als Frau gefühlt.“
Da fühle ich mich unangenehm berührt. Dieses Gefühl habe ich Martha nämlich nicht gegeben.
„Bist ja auch ‚ne tolle, sexy Frau. Und Juri hat das ja endlich auch begriffen.“
„Im Grunde muß ich dir dankbar sein. Ich glaube, wenn ich nicht Angst bekommen hätte, daß du sie mir wegnimmst, hätte ich mich meinen Gefühlen nie gestellt.“
„Hm, ja, da könntest du Recht haben. Du hast den Druck gebraucht.“
Ich nicke.
"Könnt ihr nicht noch ‚n bisschen was Lustiges erzählen? Wir müssen ja jetzt nicht so schwermütig werden.“, meint Denise.
„Oh, da gibt es noch eine Menge. Jedenfalls sind mir oft Sachen passiert, die andere unheimlich komisch fanden.“ Martha verdreht die Augen.
„Martha … deine Tollpatschigkeit gehört zu dir und ist einfach süß.“, meine ich.
„Wie war das noch? ‚Seit du keinen Kaffee mehr trinkst und keinen Kuchen mehr ißt, bist du tollpatschiger als sonst. Das nutzt mir nichts.‘ … Süß, ja?“ Martha grinst mich anzüglich an.
Wieso muß sie so ein verdammt gutes Gedächtnis haben?
„Jaaaa …“ Scheiße, wie komme ich aus der Nummer nun wieder raus?
„Schon gut.“, meint sie gutmütig.
„Ich hab damals das ganze Indigoblau gemopst.“, gestehe ich.
„Hihi, das dachte ich mir später auch.“, lacht Martha. „Das konnte nicht alles auf einmal weg sein. Und was für ein Zufall, daß du grade welches dabei hattest.“
„Na ja … ich habe überall nach Möglichkeiten gesucht, mit dir reden zu können.“
„Ich hätte dir mein Schwarm-Schwein geben können.“, lacht sie.
Dann wird sie wieder ernst. „Vielleicht war ich zu hart, ich …“
„Nee nee nee!“, unterbricht sie Sascha. „Juri hat das schon gebraucht. Er mußte einfach kapier’n, daß es so nicht weiter geht.“
„Ich mein ja nicht, daß ich wieder als seine Assistentin … aber ihm vielleicht doch mal … einfach nicht ganz sooo abweisend sein … ?“
„Ich denke, Sascha hat Recht. Wärst du wieder die liebe, nette Martha gewesen, wär ich wahrscheinlich weiter unentschlossen rumgeeiert.“
„Es war hart für euch beide, aber es war gut so. Und jetzt seid ihr zusammen und glücklich und gut ist.“
„Ja, gut ist. Ihr seid mir schon wieder viel zu ernst.“, beschwert sich Denise. „Ich dachte, eure Beziehung sei voller witziger Anekdötchen.“
Martha und ich sehen uns an. Fällt uns noch was Witziges ein?
„Das Streetcasting!“, platzen wir beide gleichzeitig raus.
„Du oder ich?“, fragt sie.
„Du. Du kannst besser erzählen.“
„Also … das war so … Juri und ich, bei ihm zuhause. Er ohne Shirt, macht mich ganz wuschig mit seinem Anblick. Dann pennt er einfach weg. Und wie er da so liegt … ach, ich konnte einfach nicht widerstehen … beuge mich zu ihm runter, um ihn zu küssen, ich Wahnsinnige. Da macht er die Augen auf. Ich tue natürlich so, als wär nix und denk nur, nix wie raus hier! Boah, war mir das peinlich! Und zuhause war’s noch schlimmer.“
„Wieso das denn?“, frage ich erstaunt.
„Na, hör mal, was meinst du, was meine Phantasie Purzelbäume geschlagen hat! Ich hab mir ausgemalt, wie das ist, wenn ich dir am nächsten Tag begegne … ich hatte ja solchen Schiß! Und dann … bin ich froh, daß du nicht da zu sein scheinst, atme auf … und da stehst du plötzlich vor mir.“
„Hm, und hab erstmal so getan, als hätt‘ ich nicht gemerkt, daß du mich küssen wolltest.“
„Jaaaa, ganz schön scheinheilig war das.“, schimpft sie mit mir. „Jedenfalls, Juri wollte spontan ein Streetcasting machen, wir also los, war auch alles ganz easy. Bis er sagt, er bräuchte ‚ne Pause. Ich hab mich inzwischen sicher gefühlt, frag also ahnungslos, ob er schlecht geschlafen hätte. Und dann, peng, knallt er mir hin, daß er geträumt hätte, seine Assistentin hätte ihn küssen wollen. Und nie tut sich der Erdboden auf, wenn man darin versinken möchte.“
„Das Beste kommt aber noch.“, grinse ich.
„Ja, klar, sicher … hast mir unterstellt, ich wollte mit dir schlafen.“
„Ja, stimmte das denn nicht?“, grinse ich frech.
„Ja. Nein. Mann, doch nicht so!“, meint sie amüsiert und verzweifelt zugleich.
Ich ziehe sie an mich und küsse sie zärtlich.
„Ich hätte das doch unmöglich zugeben können.“
„Und da hast du dir mal eben diesen Supertypen zusammenphantasiert.“
„Das war ‚ne echte Notlage. Ich hab diesen Kerl auf der anderen Straßenseite gesehen, dunkelhaarig, Brille …“
„Ahaaaa, so war das!“ Ich muß jetzt echt lachen.
„Ich komm da nicht so ganz mit.“, lacht Denise.
„Juri hat mich gefragt, ob ich in ihn verliebt bin. Ich hab nein gesagt und behauptet, ich sei schon verliebt. In ‚nen Typen, den ich im Internet kennengelernt hätte. Aber Juri hat einfach nicht locker gelassen, wollte wissen, wie dieser Typ denn so sei. Ooooh, der freche Kerl hier wußte genau, daß ich flunkere. Er hatte immer schon einen diebischen Spaß dran, mich aufzuziehen.“
„Weil du dann immer schon soooo süß warst.“ Ich muß sie wieder küssen.
Sascha gähnt herzhaft. „Ihr seid wirklich süß. Und ich bin müde.“
Wo er’s erwähnt …
„Morgen zusammen frühstücken, nicht?“, fragt Martha.
„Du meinst wohl nachher. Ist schon morgen.“, grinst Sascha.
„Oh ja, natürlich. Ich sollte definitiv auch ins Bett.“
„Laßt durchklingeln, wenn ihr wach seid.“, meint Denise.
Kurz darauf sinken Martha und ich zufrieden seufzend ins Bett.
Ich genieße es sehr, wie sie sich an mich kuschelt, sie ist so wunderbar weich und warm …
Und bald hat uns der Alltag wieder. Wobei unser Alltag selten langweilig ist.
Durch den Verkauf der Martha-Kollektion an die Modehäuser und Mosch stehen wir umsatzmäßig ganz gut da, zumal es nicht unerheblich ist, was von Marthas Weihnachts-Accessoires über den Ladentisch ging.
Ich hab’s ja nicht so mit Zahlen, aber Martha und Denise hängen sich da rein und ich bin sicher, sie machen das gut.
„Irgendwann müssen wir uns wohl doch mal nach ‚nem Steuerberater umsehen.“, meint Martha eines Tages.
„Echt? Die tippen doch auch bloß die Zahlen in die Formulare und kassieren ‚ne Menge Kohle dafür.“ Sascha schüttelt den Kopf.
„Na, ganz so einfach ist das nicht. Wenn du nicht weißt, wie das alles abzurechnen ist, Löhne, Sozialabgaben und so weiter und machst was falsch … das hinterher mit dem Finanzamt auseinanderzuklamüsern ist total nervig. Es ist definitiv besser, das macht jemand, der da richtig Ahnung von hat.“
„Würd’s halt schade finden, wenn euch irgendso’n Vogel abzockt.“
„Keine Sorge. Denise hört sich schon um. Die hat ‚nen großen Bekanntenkreis.“
Wieder muß ich Martha einfach dafür bewundern, daß sie diesen trockenen Büro- und Zahlenkram und das Kreativsein unter einen Hut bringt. Meine Kreativität wäre den Bach runter, müßte ich mich mit diesem Papierkram beschäftigen.










Während Martha voll im Schwung ist, neue Accessoires kreiert und gute Laune hat, weiß ich nicht, was nach der Martha-Kollektion nun kommen soll.

Bald ist das Frühjahr da, diverse Fashion-Shows stehen an und wo bleibt Korolok?
Nun ist eine kreative Flaute nichts Ungewöhnliches und auch nicht weiter tragisch, wenn sie nicht lange anhält.
Aber in meinem Hinterkopf spukt herum, daß unsere Existenz von unserem Erfolg abhängt und ich mache mir Sorgen, daß Martha bald alleine für den Erfolg sorgen muß, weil ich nichts mehr auf die Reihe kriege.
Das macht mich reizbar. Ich gehe immer öfter wegen Kleinigkeiten an die Decke.
Martha und Sascha albern rum, während sie an ihren Accessoires arbeitet und ich maule sie an.
Josie hat meinen Zuschnitt noch nicht genäht, weil sie erst was für Martha genäht hat und ich maule sie an.
Ich habe mich beide Male entschuldigt, aber die unterschwellige Reizbarkeit ist noch da, das merke ich.
Mehrfach die Woche ruft Gräfin Elisabeth aus Düsseldorf an … oder ist es die andere, die … ich hab mir den Namen nicht gemerkt.
Martha ist Feuer und Flamme für diese Dessous-Sache und steckt eine Menge Zeit und Energie da rein.
Sie ist nachts auch auf und entwirft eigene Modelle.
Erzählt mir anderentags begeistert, daß es ihr Spaß machen würde, neben ihren Accessoires sexy Dessous zu entwerfen, schicke Nachtmode und so weiter. Sie glüht vor Eifer.
Und ich frage mich, warum ich mich nicht für sie freue.
Ich finde sie sonst immer so süß, so unwiderstehlich, wenn sie so voller Elan ist.
Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist.
Ich bin doch glücklich, meine Beziehung mit Martha läuft gut, ich habe in Sascha einen guten Freund, unsere Arbeitskollegen sind treu und verläßlich – also alles bestens.
Habe ich Angst, daß dieser Zustand nicht lange anhält, weil es bei mir bisher immer so war?
Befürchte ich insgeheim die nächste Talfahrt?
Ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen, aber das wird von Tag zu Tag schwieriger.
Ich sollte mit Martha reden, denke ich. Nur weiß ich nicht, worüber. Es gibt ja kein konkretes Problem, wie sollte sie mir also helfen?
 

Die ständigen Anrufe aus Düsseldorf gehen mir auf die Nerven.

„Du beschäftigst dich nur noch mit dieser Unterwäsche, du steigerst dich da richtig rein.“, meine ich ziemlich mies gelaunt zu Martha.
Sie sieht mich erstaunt an.
„Das macht mir Spaß.“
„Aber das ist doch nicht unser Ding.“
„Ding? Was für ein Ding?“
„Na, womit wir unseren Laden führen … meine nicht-alltags-taugliche Mode und deine Accessoires. Der scheinbare Gegensatz. Zwei Sachen, die nicht zusammen zu passen scheinen, aber eben doch passen. So wie wir. Schon vergessen?“
„Schon vergessen, daß wir von unserem Laden leben müssen? Und die Dessous könnten lukrativ sein.“
„Und unsere Idee, unsere Ideale? Verkaufen wir jetzt jeden Mist, nur weil man damit Kohle machen kann?“
„Mist? MIST??? Sag mal, geht’s noch? Wer war denn in Düsseldorf so angetan von der Unterwäsche? Wer hätte mich denn am liebsten gleich darin gesehen?“
„Die anzuziehen und sie zu verkaufen, sind zwei verschiedene Dinge.“
„Also anmachen dürfen die Dessous dich, aber verkaufen soll sie gefälligst jemand anders? - Du solltest mal in deinem Oberstübchen ausmisten, da sind die Motten drin!“
„Ich will verdammt noch mal nicht, daß unser Laden sich irgendwann nicht mehr von einem x-beliebigen Kaufhaus unterscheidet!“
„Wenn diese Dessous so billig, so gewöhnlich sind, deinem gehobenen Anspruch nicht gerecht werden, warum hast du dann einige der Entwürfe in deine eigenen eingearbeitet?“
„Das ist was anderes.“
„Ach so? Für sich alleine sind die Dessous Mist, aber wenn der tolle Juri Adam was draus strickt, dann ist’s toll … ja, klar! Ich hab dich schon lange nicht mehr so arrogant erlebt … nein, eigentlich noch nie.“
Martha versteht mich nicht mehr. Ich mich selber auch nicht.
Ich mache es wie früher in Konfliktsituationen … ich greife mir meine Jacke und haue ab.
„Na, klar, wegrennen ist wieder das Einzige, was dir einfällt.“, ruft Martha mir nach.

Aufgebracht schreite ich weit aus, hätte Lust, um mich zu schlagen.

Was immer in mir ist, es muß raus.
Meine Füße tragen mich zum Boxclub.
Außer meinem Trainer ist da keiner.
„Was ist denn mit dir los?“, fragt er nach einem Blick in mein Gesicht.
„Muß mich abreagieren.“
„Hast deine Sachen gar nicht dabei, was? Na, weißt ja, wo Reserve-Sachen sind.“
Stimmt, an meine Sporttasche habe ich in der Eile meines Abmarsches natürlich nicht gedacht.
Ich gehe mich umziehen. Während ich meine Hände bandagiere, rotieren meine Gedanken.
Was war das eben?
Zoff mit Martha.
Aber weswegen eigentlich?
Diese Dessous … waren die nur der Aufhänger für was, was tiefer sitzt?
Weil … Martha hat Recht, mir gefallen die Sachen ganz gut und ja, einige sogar so gut, daß ich sie als Anregungen für meine Entwürfe verwendet habe.
Und warum bitte, soll Martha nicht eigene Dessous entwerfen?
Was immer Martha macht, es trägt ihre Handschrift und ist ebensowenig mainstream wie meine Modelle.
Warum also der Vorwurf, wir würden bald Sachen verkaufen, die man überall haben kann?
So ein Schwachsinn!
Bin ich doch neidisch auf ihren Erfolg?
Accessoires gut und schön, aber es sind eben nur Accessoires. Damit bleibt Martha ja irgendwie automatisch im Schatten des großen Künstlers Juri Adam. Hat Martha Recht?
Habe ich vielleicht Angst, daß sie mich eines Tages in den Schatten stellt?
Sehe ich sie als ernsthafte Konkurrenz?
Das will ich aber nicht!!!
Wir waren schon immer ein Team und haben zusammen- und nicht gegeneinander gearbeitet.
Ich nehme mir den Sandsack vor.
Du blödes Arschloch!
Du arroganter Mistkerl!
Du bist so bescheuert!
Machst Martha dumm an!
Bei jedem Vorwurf an mich selbst bekommt der Sandsack einen verpaßt.
Bald bin ich naßgeschwitzt.
Und ziemlich erledigt.
Aber mein Problem bin ich noch nicht los, fürchte ich.
Ich sollte das mit der Therapie nicht mehr allzu lange rausschieben.
Nach dem Duschen und Umziehen setze ich mich beim Mexikaner auf ein oder zwei Sljivovice rein.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe, als mich eine Frau anspricht.
„Juri? Juri Adam?“
Ich sehe hoch und frage mich, ob ich die Frau kenne.
„Ja, sag mal, kennst du mich nicht mehr?“
Meine Güte, ich hab so viele Frauen in meiner Berliner Zeit kennengelernt, da soll ich mich an eine einzelne noch erinnern können?
Sie scheint pikiert zu sein, weil ich mich wirklich nicht erinnere.
„Monique! Weißt du nicht mehr … ?“
Ich schätze, wir haben gevögelt.
Das wird auch der Grund sein, warum ich mich nicht an sie erinnere.
Aus dem Bett, aus dem Sinn.
So wie sie mir in die Augen sieht, war es für sie eine unvergeßliche Nacht.
Das Kompliment werde ich ihr kaum zurückgeben können.
Ich hüte mich allerdings, ihr das zu sagen.
Sie hat ziemlich lange Fingernägel.
Und so zickig wie Models sind …
Inzwischen hat sie sich zu mir an den Tisch gesetzt.
„Ah, Sljivovic. Für mich auch, bitte. … Na ja, ist schon eine Weile her. Aber ich hätte ja doch gedacht, daß du dich ein klein wenig an mich erinnerst. Immerhin …“
„Ich hab ein ganz schlechtes Personengedächtnis.“ Das ist immerhin nicht ganz gelogen.
„Ich könnte dein Gedächtnis ja ein wenig auffrischen.“, meint sie und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel.
„Nein, danke.“, sage ich und schiebe ihre Hand weg.
„Oh! So kenne ich dich gar nicht.“
„Stimmt. Du kennst mich nicht.“
„Aber deinen Geschmack. Und für ein leckeres Häppchen warst du immer zu haben. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit.“
„Inzwischen bevorzuge ich feste Mahlzeiten.“
„Bitte?“
„Ich habe eine feste Beziehung.“
„Mit einer Frau?“
Das ist mir zu blöd.
„Das glaub ich nicht.“
„Dann nicht.“ Mir doch egal, was sie glaubt.
„Du verarschst mich doch!“, lacht sie. „Das ist nur ein neues Spiel von dir.“
Mir ist so gar nicht nach spielen.
„Mir würde da auch so das eine oder andere Spiel einfallen.“
Sie setzt sich auf meinen Schoß, legt mir die Arme um den Hals und will mich küssen, ich drehe den Kopf zur Seite, weil ich das nicht will, will sie grade von mir runterschieben, als ich eine vertraute Stimme höre.
„Juri?“
Martha steht nahe dem Eingang.
Kapitel 22


Auf diese Monique bin ich eh schon mehr als sauer.
Ich schubse sie von mir runter, sie segelt gleich von der Sitzbank und landet unsanft auf dem Boden.
Heyyyy!“, schimpft sie.
Martha steht immer noch neben dem Eingang.
Ich stehe neben meinem Sitzplatz, spüre, wie Monique nach meiner Hand greift, um sich an mir hochzuziehen.
Ich schüttle sie widerwillig ab, sehe die ganze Zeit Martha an.
Und habe keine Ahnung, was ich tun soll.
Es gibt sicher einen Haufen Männer, die sehr geübt in solchen Situationen sind.
Genau wissen, was man dann am besten sagt, am besten tut.
Es ist nicht das, wonach es aussieht. Oder: Das hat nichts zu bedeuten.
Was für eine gequirlte Scheiße!
Ich bin durcheinander, müde durch das Training, genervt von der Zicke neben mir am Boden … eigentlich möchte ich nur nach Hause, mich an Martha kuscheln und gar nichts mehr denken.
Aber ich habe das Gefühl, genau das ist gerade unmöglich.
Monique steht auf, sieht mich an, sieht Martha an …
Das ist nicht dein Ernst? Das ist nicht deine ‚feste Beziehung‘? Diese Tonne? Du hast dich wirklich sehr verändert.“ Sie schaut mich mißbilligend an, schnappt sich ihre Tasche und geht, nicht, ohne im Vorbeigehen Martha einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.
Sie hat Martha beleidigt, aber mir ist das im Moment wurscht.
Ich fühle mich leer, ausgepumpt, furchtbar müde.
Und Martha scheint all das in meinem Gesicht zu lesen.
Sie kommt auf mich zu, legt ihre Arme um mich, drückt sich an mich und fragt: „Hey, was ist denn los mit dir?“
Wenn ich das nur wüßte.
Aber es ist tröstlich, sie so zu spüren.
Ich ziehe sie noch fester an mich, vergrabe mein Gesicht an ihrem Hals.
"Du denkst nicht, daß da grad was war … mit dieser Frau?“, frage ich sie leise.
Quatsch! So bist du nicht. Mal eben eine andere aufreißen, wenn wir uns streiten, nee!“
Ich dachte … damals, bei Denise …“
Ach so, ja … da sind meine Minderwertigkeitskomplexe nochmal aufgeflammt. Da war ich mir deiner einfach noch nicht so sicher.“
Aber jetzt bist du’s?“
Ja. Ich vertraue dir. Absolut. Du würdest mir niemals fremdgehen. Ich glaub, nicht mal in Gedanken.“
Stimmt. Ihr fremdzugehen, der Gedanke kommt mir geradezu absurd vor.
Ich hab dir auch nicht nachspioniert, ich hab mir Sorgen gemacht, weil du so komisch drauf warst.“
Das weiß ich.
Laß uns nach Hause gehen. Wir machen den Laden für heute zu, gehen gemütlich spazieren und wenn du magst, kannst du reden.“
Das ist eine gute Idee.
„Hey, wieder alles okay bei euch?“, fragt Sascha besorgt, als wir den Laden betreten.
„Keine Sorge, von einer echten Beziehungskrise sind wir weit entfernt.“, meint Martha beruhigend zu ihm.
„Es liegt an mir. Irgendwas stimmt nicht mit mir und ich weiß nicht, was.“, gebe ich zu.
„Wir wollen für heute zumachen und raus an die Luft, nur wir beide.“, teilt Martha mit.
„Ich kann hier auch die Stellung halten. Denise will in einer Stunde vorbeikommen. Müßt also nicht zumachen.“
„Das muß aber echt nicht sein, daß ihr andauernd für uns einspringt.“, winkt Martha ab.
„Na, ihr bezahlt mich doch dafür … nee, nix da, ihr beide schiebt jetzt ab und macht euch keinen Kopp.“ Sascha schubst uns resolut zur Tür raus.
Es ist ein angenehmer Vorfrühlingstag. Nicht gerade warm, aber die Sonne scheint.
Wir fahren mit der U-Bahn in den Grunewald.
Hand in Hand gehen wir schweigend dahin.
Ich versuche, meine Gedanken zu sortieren und stelle nebenbei fest, was für ein schönes Gefühl es ist, einfach so neben Martha her zu laufen, ihre Hand in meiner.
Sie sagt nichts, sie macht nichts weiter, als meine Hand zu halten … und doch spüre ich ihre Liebe, ihre Zärtlichkeit für mich so deutlich …
Warum zum Geier bin ich eigentlich so mies drauf, wo ich die wunderbarste Frau, die man sich vorstellen kann, an meiner Seite habe?
Ich bin so ein verdammter Glückspilz, daß sie mich liebt!
Ich weiß nicht, wie lange wir so gelaufen sind, ohne zu reden.
Es tut mir gut, daß sie mich nicht bedrängt, mich nicht löchert.
Sie scheint wirklich Vertrauen in unsere Liebe, unsere Beziehung zu haben.
Irgendwann fange ich an zu reden.
„Wenn ich mich selbst analysieren müßte … dann würde ich vielleicht sagen, daß ich … so was wie Zukunftsängste habe … ich weiß nur nicht, wieso …“
„Es muß nicht immer konkrete Gründe für Ängste geben. Und oft sind die Gründe auch so weit woanders zu suchen, daß man den Zusammenhang nicht erkennt … nicht, daß du denkst, ich wollte auf deine Vergangenheit anspielen …“
Nein, das denke ich nicht. Auch wenn es eine Möglichkeit sein könnte.
„Weißt du, seit wir in Berlin sind, war immer irgendwas, längere Ruhezeiten hatten wir nicht. Was ich meine, ist … du hattest nicht viel Zeit zum Grübeln, weil immer zu tun war.“
„Du meinst, ich hatte eventuell nur keine Zeit für meine Sorgen?“
„Ja, vielleicht … weißt du, ich hab nachgedacht … du hast immer nur für dich selbst sorgen müssen … hast dich nicht um andere geschert, einfach geschmissen, wenn dir was nicht gepaßt hat … das kannst du jetzt nicht mehr. An deiner Zukunft hängt meine auch mit dran. Kann es sein, daß das dir Angst macht? Daß du nicht mehr nur für dich selbst verantwortlich bist?“
„Daran hab ich auch schon gedacht … und es stimmt ja … wenn ich es versiebe, mußt du es mit ausbaden …“
„Umgekehrt aber genauso.“
Daran hab ich noch gar nicht gedacht.
„Juri … wir wissen beide nicht, was die Zukunft uns bringen wird … also geschäftlich, meine ich. Vielleicht gibt es längere Durststrecken, vielleicht setzen wir das mit dem Laden auch irgendwann ganz in den Sand. Aber egal, was kommt, wir gehen da gemeinsam durch. Du hast selbst gesagt, das ‚du‘ und ‚ich‘ ist jetzt ein ‚wir‘. … Nehmen wir mal an, deine nächste Kollektion würde floppen … du glaubst doch nicht, daß ich dir dann Vorwürfe machen würde, wenn wir finanziell dann knapper dran sind?“
Ich schüttele den Kopf.
„Ich glaube, oberflächlich betrachtet, kommst du gut damit klar, in einer festen Beziehung zu leben … aber so tief in dir drin … ist dir das doch noch fremd und unheimlich.“
So wie Martha das sagt, klingt das sehr … negativ.
„Du meinst aber nicht, daß ich ein Problem mit unserer Beziehung habe?“
„Quatsch! Nur, daß das In-einer-Beziehung-leben für dich noch lange nicht selbstverständlich ist.“
Ach so. Ja, das stimmt wohl.
„Aber unheimlich … das ist jetzt nicht der passende Ausdruck, denke ich.“
„Dann ersetz ihn durch was anderes.“, meint Martha geduldig.
„Ich bin glücklich in unserer Beziehung. Ich fühle mich sicher. … Gut, meine Zukunftsängste … aber abgesehen davon … das alles fühlt sich richtig an. Eben nicht fremd und unheimlich.“
Irgendwie habe ich das Gefühl, mich Martha im Moment nicht verständlich machen zu können. Aber wie auch, wenn ich selbst nicht recht verstehe, was eigentlich mit mir los ist.
Aber ich merke, wie gut es mir tut, mit Martha zu reden, auch wenn wir nicht rausfinden, was mein konkretes Problem ist.
„Martha … du sollst wissen, daß es mir sehr hilft, mit dir reden zu können. Meine Sorgen … mit dir zu teilen … macht sie irgendwie … leichter.“
„Dafür ist das Miteinanderreden da.“, lächelt sie. „Es ist einfach schön, sich einem Menschen anvertrauen zu können, jemanden zu haben, der einem zuhört.“
Ja.
Wir bleiben stehen, sie küßt mich zärtlich, lehnt dann ihren Kopf an meine Brust.
So stehen wir lange da.
Und ich merke, wie sich meine innere Anspannung löst, ich ruhiger werde.
Egal, was passiert, ich bin nicht allein. Ich habe Martha.
Wahrscheinlich werde ich mir das noch öfter sagen müssen. Aber das macht nichts.
In dieser Nacht gelingt mir ein Entwurf, der mich sehr zufriedenstellt und mir spuken ein paar Ideen durch den Kopf, wie sich aus diesem einen Entwurf eine kleine, aber feine Kollektion entwickeln könnte …
Die nächsten Tage bin ich mit meinen neuen Ideen beschäftigt und habe, wie Martha meint, gar keine Zeit für irgendwelche Sorgen.
Zudem hat Martha Lotti Rotfeld auf unsere Spur gebracht.
„Türlich wußte sie längst, daß du nach Berlin bist. Was immer in der Modewelt passiert, sie weiß es. Aber ich dachte, ich helf‘ mal nach und hab sie angerufen.“, meint Martha munter.
Ich seufze.
Nicht, daß ich was gegen die Rotfeld hätte, abgesehen davon, daß sie die Nase ziemlich weit oben trägt. Und ihre Fotostrecken sind eine wirklich gute Werbung.
Ich glaube, ich scheue einfach nur das Gewese drumherum. Die Rotfeld will hofiert werden.
Irgendwie haben in der Modewelt alle ‚nen Knall.
Aber mich sollte das doch nicht jucken; die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt Martha gerne.
Sie setzt sich selbst nicht gern in Szene, aber dafür mich.
Sie freut sich schon drauf, der Rotfeld meine neuen Modelle zu präsentieren.
„Du weißt, daß die Rotfeld für ihre Fotos ‚ne Show haben will. Die Klamotten an gefälligen Models vor ‚ne Leinwand stellen … das reicht ihr nicht. Wir müssen uns was überlegen, wie wir das in Szene setzen wollen.“
„Weiß ich. Ich hab mir da schon was überlegt.“
Wieso überrascht mich das jetzt nicht?
„Wir sind in Berlin … ich meine … du bist dahin zurückgekehrt, wo du angefangen hast. Apropos … du hast mir bis jetzt noch gar nicht gezeigt, wo genau du damals gearbeitet hast, das wird jetzt aber mal Zeit, nicht?“
Da hat sie Recht.
„Ich dachte mir, wir machen was back-to-the-roots-mäßiges. Wir suchen uns eine Location, die der ähnelt, wo du gearbeitet hast und stellen quasi nach, wie das alles begonnen hat …“
Martha sieht mich erwartungsvoll an.
Mir gefällt die Idee, deshalb nicke ich ihr zu.
Am späten Nachmittag bin ich mit Martha, Sascha und Denise unterwegs zu meiner alten Wirkungsstätte.
Dabei handelt es sich um eine alte Fabrik, wo im zweiten Weltkrieg Teile für Flugzeuge gefertigt wurden. Irgendwer hat einen Teil des Geländes sanieren lassen und bot damals Hallen, Lager und andere Räume Künstlern für kleines Geld an.
Ich war nicht der Einzige, der dort arbeitete.
Maler, Musiker, jede Menge anderes Volk tummelte sich da.
Es war eine supergeile kreative Atmosphäre.
Abends hockten wir zusammen, haben uns ausgetauscht.
Ich zeige Martha alles, sie ist fasziniert.
„Kein Wunder, daß du dich in dem düsteren Loft in Düsseldorf so wohl gefühlt hast … beziehungsweise dort so gut arbeiten konntest … gewisse Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen.“
Das stimmt.
Schmutziger Backstein, alte Stahlträger, Rost und abblätternde Farbe überall.
Das ganze Gelände steht inzwischen leer.
Aber ein bisschen was vom früheren Flair ist für mich noch zu spüren.
Ich denke, das Shooting sollten wir hier machen.
„Mal schauen, ob sich der Eigentümer ausfindig machen läßt.“, meint Martha.
„Quatsch, das dauert doch ewig. Und den kümmert das Gelände hier doch offensichtlich nicht mehr.“
„Du willst hier einbrechen?“
„Wieso denn einbrechen? Ist doch alles offen.“, grinst Sascha.
In der Tat gibt es keinen Zaun, kaum eine Tür ist abgeschlossen.
Und daß sich hier Obdachlose aufhalten, Kinder die Hallen als Abenteuerspielplatz nutzen, ist auch nicht zu übersehen.
„Martha, jeder latscht hier rein und raus, ohne zu fragen. Und wir machen nur ein paar Fotos, wir machen hier nix kaputt.“, versuche ich sie zu überzeugen.
„Müßten auch erstmal was finden, das noch heil ist.“, grinst Sascha wieder.
„Wär schon optimal, die Location.“, meint Martha leise und zieht ihre Stirn in Falten.
„Und dazu habe ich hier meine erste Kollektion entworfen, meine Karriere gestartet.“
Das ist das Argument, das bei Martha den Ausschlag gibt, dem kann sie nicht widerstehen.
„Okay. Dann arbeiten wir jetzt ein Konzept aus, fragen Gloria, ob sie und ihre Kollegin Zeit haben … ein paar Proben und das Shooting kann steigen!“
Martha ist wieder voll in ihrem Element.
Der nächste Tag ist ein Samstag.
Martha hat eben einen Kater im Hinterhof gefunden.
Finchen sagt, sie kennt ihn nicht, sie kennt sonst alle Katzen aus der Gegend.
Sie meint, er hätte uns adoptiert.
Würde er schon seit Tagen im Hinterhof hocken, würde ich ihr vielleicht zustimmen.
So aber meine ich, er streunt nur und wird bald wieder nach Hause marschieren.
Er ist übrigens schwarz und hat weiße Strümpfe.
Was mich gleich auf die Idee für einen neuen Entwurf bringt.
Martha würde ihn gerne behalten, gesteht sie mir leise.
„Zu einer ganz normalen, langweiligen Beziehung gehört ein Haustier.“, findet sie.
Unsere Beziehung ist alles andere als langweilig, aber wer weiß – vielleicht taugt der Stubentiger ja als Wachhund?
Egal.
Martha und Sascha fahren nach Ladenschluß zu der alten Fabrik, machen Fotos, Martha zeichnet einen Grundriß und macht sich ans Storyboard.
Ich arbeite mit Josie und Janine den ganzen Tag an den Modellen. Nur zwei sind komplett fertiggestellt, an zwei weiteren fehlen nur die Applikationen, aber drei existieren nur als simpler Zuschnitt, von den neuen Entwürfen ganz zu schweigen.
Mir fehlt Martha. Josie und Janine sind flink und akkurat, aber bei ihnen fehlt mir die Gedankenübertragung. Nicht, daß sie nicht verstehen würden, was ich will … aber diese wortlose Übereinstimmung, die ich mit Martha habe … wir sind wirklich ein wunderbares, ein perfektes Team.
Martha telefoniert abends mit Lotti, sie will nächsten Samstag kommen.
Meine Süße schaut mich zufrieden an, den Kater auf dem Schoß, der ebenso zufrieden schnurrt.
Was ich auch tun würde, säße ich auf Marthas Schoß und sie würde mich so zärtlich kraulen.
„Ich glaube, ich nenne ihn Kater Carlo.“, kichert Martha.
Wenn ich mir die beiden so ansehe, habe ich Zweifel, daß der Kater freiwillig wieder geht.
„Du nimmst den aber nicht mit ins Bett, oder?“, brumme ich.
Martha zögert mit der Antwort, aber ihre Wundwinkel zucken und ich kapiere, sie will mich nur foppen.
Es soll mir auch wurscht sein, ich hab keine Katzenallergie und das Tierchen kann ja nicht rumerzählen, was in unserem Bett so passiert …

Kapitel 23

Am Morgen wache ich auf, weil mich was an der Nase kitzelt. Ich bin schon versucht, zu fragen „Martha, was machst du da?“, als ich kapiere, daß ich einen Katzenschwanz im Gesicht habe.
„Laß das doch!“, murmele ich, weil ich Martha nicht wecken will, wundere mich, warum der Kater nicht auf ihrer Seite schläft.
Man hätte die Schlafzimmertür schließen können, denke ich. Aber da wäre Martha bestimmt dagegen gewesen.
Ich sehe den Kater an.

Und er mich, als ob er fragen wolle „Ist was?“.

Katzen sind selbstbewußt, unabhängig und scheren sich nicht um die Meinung anderer.

Eigentlich haben wir viel gemeinsam.

Ist das jetzt gut oder schlecht? Also im Hinblick auf unser Zusammenleben?

Der Kater sieht mich immer noch an.

Ich kraule ihn versuchsweise hinter den Ohren und siehe da, er schnurrt.
Prima, was bei Martha funktioniert, geht auch bei ihm.
So schlafe ich nochmal ein, rechts Martha im Arm, links den Kater.
Als ich Sascha später davon erzähle, grinst der. „So so, du wachst also jetzt morgens immer mit ’nem Kater auf.“
„Du kommst dir mit deinen billigen Witzen echt komisch vor, was?“, brumme ich.
Aber auch Martha grinst, die sich übrigens sehr freut, daß ich nichts gegen unseren neuen Mitbewohner habe.
Wie sollte ich, wo der doch so rücksichtsvoll war, vom Bett zu springen und das Zimmer zu verlassen, als ich mich anschickte, Martha wie meist morgens als kleines Vor-Frühstück zu vernaschen.
Ich hätte ja nichts dagegen, daß uns der Kater beim Vögeln zuschaut, aber sehr wohl, daß der mir seine Krallen über den nackten Arsch zieht, wenn ich grade drin bin.
Wer weiß schon, was Katzen so alles zum Spielen anregt …
Den Tag über sitzen Martha und ich am Konzept für das Shooting. Wir haben uns daran gewöhnt, daß wir durch den Ladenverkauf immer wieder unterbrochen werden. Ich fluche hin und wieder herzhaft über die Störungen, was aber verhindert, daß ich mich verspanne. Martha grinst dann nur oder meint kichernd „Juri!“, während sie selbst diese Situation ganz lässig meistert.
Martha will ja meine Anfänge nachstellen.
Ich weigere mich strikt, mich selbst zu spielen.
Nun soll Sascha mich darstellen.
Die Models posen zunächst in halbfertigen Modellen, während ich, äh, Sascha die Entwürfe perfektioniert und die Models schließlich die fertige Kollektion präsentieren.
Das ist zumindest der Plan.
„Wir brauchen noch jemanden, der ‚nen Fotografen mimt, wir müssen ja ein Shooting darstellen.“, meint Martha.
Sascha, der gerade vom Material-Einkauf kommt, hört das und meint, wie es mit ‚nem Kumpel aus dem Box-Club wäre.
„Mirko hat grad seinen Job verloren und hätte sicher nichts gegen eine kleine Unterstützung.“
Ich überlege kurz und denke, daß Mirko sich in einem Shooting gut machen würde, auch wenn er nur einen Fotografen spielt.
Martha zeichnet fleißig die Positionen der Figuren in ihren Grundriß.
„Wenn wir weiter so schnell voran kommen, können wir morgen Gloria und ihre Kollegin zu einer Probe bitten.“, meint sie begeistert.
Und so geschieht es.
Ich bin mit Sascha tagsüber auf dem Fabrikgelände. Wir haben Marthas Grundriß dabei und richten die Location für das Shooting her.
Da muß Schutt und Schrott beiseite geschafft werden.
Ich fluche, weil es trotzdem noch nicht wirklich meiner Wirkungsstätte ähnlich sieht.
„Sag mir, wie es sein soll und ich mach’s.“, meint Sascha lässig.
Ich sehe ihn böse an, weil ich mir verarscht vorkomme.
„Ehrlich.“, meint er. „Ich krieg das hin.“
Ich verdrehe die Augen, fahre mir durch die Haare, atme tief durch und versuche dann, Sascha zu erklären, was ich will, ohne ihn anzubrüllen.
Später gucke ich dumm aus der Wäsche, weil er eine Ecke der Halle tatsächlich so hergerichtet hat, daß ich Ähnlichkeiten erkenne.
„Kann so bleiben.“, brumme ich.
Sascha grinst zufrieden.
Wir sind dreckig und trotz der Kälte verschwitzt und so fahren wir nach Hause zum Duschen, Umziehen und Essen.
Am späten Nachmittag sind wir wieder da, mit Martha, Gloria, Isabell, Karin und Mirko.
Und Kater Carlo.
Der lief uns einfach nach und sprang ins Auto, als ob das ganz normal wäre.
Ich habe etwas genervt reagiert, aber als ich Martha kichern hörte, dachte ich mir, was soll‘s?
Nun schnürt der Kater über das Gelände, während Sascha und ich ein paar Requisiten aufbauen und unsere Models sich, von Martha angeleitet, orientieren.
Dann geht es los, Martha filmt mit einer kleinen Kamera, damit wir später schauen können, wo noch was zu ändern ist.
Ich wetze hin und her, schiebe Models und Requisiten hin und her, maule rum, weil was noch nicht so ist, wie ich es in meinem Kopf habe, Martha versucht, an mir dran zu bleiben und alles zu notieren, was ich von mir gebe, Sascha lacht, fragt, was in meinem Kaffee war, Martha antwortet „So ist er doch immer, weißt du doch.“ … also das ganz normale Chaos, wenn Juri Adam, nein Korolok, bei der Arbeit ist.
Eine Weile später lacht Sascha nicht mehr, sondern ist ziemlich angenervt.
Er soll ja ich sein und das liegt ihm nicht so sehr.
„Hey, das ist nicht so leicht, so ‚nen Bekloppten wie dich zu spielen!“, mault er mich an.
„Wen nennst du hier bekloppt, du kroatischer Pausenclown?“, maule ich zurück.
„Juuungs, kommt mal wieder runter.“, lacht Martha.
Sascha und ich sehen Martha böse an, dann uns … dann schnaufe ich durch und meine versöhnlich „Okay, noch mal von vorn. Und glaub mir, es ist nicht leicht, ich zu sein, wir können ja gerne mal tauschen.“
„Nee, danke.“, meint er und verzieht das Gesicht zu einem halben Grinsen.
Zwei Stunden später sind wir alle ziemlich fertig, aber ich sehr zufrieden.
Auf einer Kiste hockend sehe ich mir an, was Martha gefilmt hat.
Bin ein wenig irritiert, als Carlo uns eine tote Maus vor die Füße legt.
„Ist das eine Liebeserklärung oder soll ich die essen?“, frage ich Martha.
Die kichert nur und hat überhaupt glänzende Laune, nimmt den Kater auf den Schoß, der sich gleich bei ihr einrollt und schnurrt.
Ich beneide ihn darum.
„Kater müßte man sein.“, murmele ich.
„Das seh ich mir an … wie du mir auch so eine Maus vor die Füße legst.“, prustet Martha los.
„Ich hatte da ganz andere Gedanken.“, meine ich, greife sie mir und küsse sie leidenschaftlich.
Carlo rutscht protestierend von ihrem Schoß, langt mit ausgefahrenen Krallen nach meinem Bein.
„Sorry.“, meine ich.
Hab ich mich grad wirklich bei dem Kater dafür entschuldigt, meine Frau geküßt zu haben?
Trotzdem beuge ich mich zu ihm, kraule ihm den Rücken, er macht ‚nen Buckel und schnurrt. Nachtragend ist er nicht; ich denke, das könnte klappen mit uns.
Diesen Abend arbeiten Martha und ich noch Details aus.
Am nächsten Tag veranstalten wir eine weitere kurze Probe.
Nach einer halben Stunde bin ich zufrieden.
„Sehr gute Arbeit.“, lobe ich Martha, deren Idee das alles war und die meine Vorstellung davon perfekt umgesetzt hat.
„Gern geschehen. Ich bin selbst ganz überrascht, wie gut das geworden ist. Ich hätte nicht gedacht, daß wir das so hinkriegen, wie wir uns das gedacht haben.“
„Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.“, meine ich und sehe ihr in die Augen.
Sie lächelt mich an, küßt mich zärtlich.
Dann ist Samstag.
Martha kauft für einen mittleren Staatsempfang ein.
„Martha, meinst du nicht, das ist ein bisschen übertrieben?“, frage ich.
„Du weißt doch, was Lotti für Ansprüche stellt. Außerdem dachte ich, wir könnten ja hinterher ein bisschen feiern. Gloria hat bestimmt nichts dagegen.“
Ich brumme zustimmend.
Sascha holt Lotti und ihren Fotografen vom Flughafen ab.
„An was denkst du?“, frage ich Martha, die in unserem Laden am PC sitzt und vor sich hin starrt.
„Daran, wie ich Lotti das erste Mal begegnet bin. Das heißt … begegnet ist das falsche Wort … ich hocke auf der Treppe, mit den Resten ihres Cocktails auf mir …“
Ich weiß erst nicht, was sie meint, dann fällt mir ein, daß Martha mir mal erzählt hat, wie dieses Malheur damals passiert ist … daß sie Lotti eine Erfrischung bringen sollte …
„Na, sie hat dich doch später als meine vermeintliche Assistentin gelobt … weißt du noch, beim Shooting auf dem Schloß.“
„Ach, Juri, die hat mich doch nur nicht wiedererkannt, komplett angezogen und unbekleckert! Nie im Leben hätte die gedacht, daß du diese peinliche Person in der Preßpelle zur Assistentin genommen hättest.“, kichert Martha.
Ich will sie grade mahnen, sich nicht wieder selbst so runterzuputzen, als ich begreife, daß Martha nur scherzt.
„Eigentlich wollte ich auch nur sagen, daß mir das vorkommt, als wäre es ewig her … das peinliche Pummelchen von damals ist jetzt deine Partnerin, beruflich wie privat … wir sind glücklich, erfolgreich … hach, das Leben ist schön!“
Sie springt auf, küßt mich so stürmisch, daß ich mich an der Wand abstützen muß, fährt mit den Händen unter mein Shirt, meine Wirbelsäule entlang … ich stöhne unwillkürlich sehnsüchtig.
„Und ich kann dich haben, wann immer ich will.“, meint sie zufrieden, läßt mich dann stehen und geht zur Tür. „Wo bleiben die denn?“
Ich starre sie fassungslos an. Sowas hat auch noch keine Frau mit mir gemacht. Mich angemacht und dann so selbstbewußt einfach stehenlassen.
Aber irgendwie macht mich gerade das noch mehr an.
Schade, daß jetzt wirklich der falsche Zeitpunkt ist, um meiner Begierde freien Lauf zu lassen.
„Da sind sie ja!“, meldet Martha und ich bemühe mich flott, geschäftsmäßig zu denken, um Lotti nicht mit einem Ständer begrüßen zu müssen.
„Frau Rotfeld, schön, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. – Martha Wolf, wir haben telefoniert.“
„Das dachte ich mir schon. … Wir kennen uns, nicht wahr?“
„Ja … äh … ich arbeite schon länger mit Juri Adam zusammen.“
„Sie waren seine Assistentin, nicht? Das Shooting auf dem Schloß der Lahnsteins.“
Martha nickt nur; es täte ja nichts zur Sache, Lotti darüber aufzuklären, daß Martha erst nach dem Shooting meine Assistentin wurde, weil ich Trottel erst so spät begriffen habe, wie gut sie für mich ist.
Martha bittet Lotti und den Fotografen herein.
„Ah, da ist er ja! … Juri Adam! Oder soll ich nun Korolok sagen?“
„Korolok ist jetzt mein Künstlername, ich bleibe nach wie vor Juri Adam.“
„Good girls, bad boys“ … den bad boy kauft man Ihnen immer noch gleich ab. Sie wollten bei LCL weg, der Vertrag stand Ihnen im Weg, statt kleinbeizugeben, haben Sie lieber Ihren bewährten, bekannten Namen aufgegeben und sich einen neuen gesucht.“
„Wenn ich mich anderen beuge, hat meine Mode keinen Charakter mehr.“, meine ich.
„Niemand würde das Unbeugsame Ihres Charakters in Ihren Kollektionen missen wollen.“
Martha, die seitlich hinter Lotti steht, strahlt, als sie das hört.
„Nun, korrigieren Sie mich bitte, wenn ich falsch liege.“, wendet sie sich wieder an Martha, wohl wissend, daß ich nicht so gesprächig bin. „Sie führen dieses Geschäft mit Juri zusammen, als Teilhaberin?“
„Ursprünglich sollte es mein Geschäft sein, ich wollte mich hier mit meinen Accessoires selbstständig machen.“
„Ein mutiger Schritt, gefällt mir.“, lobt Lotti Marthas Courage.
„Dann hat Juri sich entschlossen, mitzukommen.“
„Hat es Ihnen bei LCL nicht mehr gefallen? Man hat sich da mit den Pelzen ja neu orientiert, das ist nicht jedermanns Ding.“
„Was die aus der klassischen Linie machen, ist mir egal. Daß ich weg wollte, hatte private Gründe.“, meine ich.
Lotti sieht mich an, dann Martha. „Hm, ich verstehe. Nun, das ist ja wahrlich nichts Ungewöhnliches, daß zwei, die kreativ so harmonisch zusammenarbeiten, auch privat zusammenfinden. Trotzdem bin ich erstaunt. Was ist mit dem einsamer-Wolf-Image?“
„Wenn sich meine Mode nur noch verkaufen ließe, weil ich ein geheimnisvoller Einzelgänger bin, dann würde ich was falsch machen.“
„Ich habe mich auch nicht in Ihr Privatleben einmischen wollen … ich bin nur furchtbar neugierig und Sie werden nicht abstreiten können, daß es Interesse weckt, wenn der unnahbare Designer sein Herz für seine Assistentin öffnet.“
Ich sehe Martha an und merke, daß sie das Schlimmste befürchtet, daß ich nämlich ausraste.
Aber danach ist mir seltsamerweise gar nicht.
Im Gegenteil, ich muß lächeln.
„Martha ist eine großartige Partnerin. In jeder Hinsicht.“, sage ich.
Auch Lotti ist über meine Offenheit verblüfft. Sie braucht jedoch nur wenige Sekunden, um sich zu fangen und zu schmunzeln.
„Nun, ein Gespür für die richtigen Entscheidungen hatten Sie immer schon.“
Martha wird rot; ich freue mich für sie, daß sie von Lotti soviel indirekte Anerkennung bekommt.
Kurz darauf hat Martha ihr den Laden gezeigt und ihr alles erklärt, was sie wissen möchte.
Dann drängt Lotti zum Aufbruch, ihre Zeit sei knapp bemessen.
Und so sind wir kurz darauf auf dem alten Fabrikgelände.
Martha erklärt dem Fotografen das Konzept, damit er weiß, wie er die Sache angehen muß.
Dann sind Sascha und die Models in Action, der Fotograf auch, Lotti steht bei Martha und mir.
„Wollen Sie mir verraten, was Korolok bedeutet? Keiner konnte mir das sagen. Ich vermute, es ist serbisch, aber mich interessiert die persönliche Bedeutung, die der Begriff für sie hat.“
Ich zögere, weil mir die eigentliche Antwort zu persönlich ist.
„Es tut mir leid, aber die Frage nach der persönlichen Bedeutung möchte ich nicht beantworten. Denken Sie sich, es könnte ein Spitzname sein.“
Mir ist klar, daß Lotti nun von selbst darauf kommen könnte, daß es kein Spitz-, sondern ein Kosename ist, aber so habe ich mich doch einigermaßen geschickt aus der Affäre gezogen.
Martha wird mich sicher später für meine Diplomatie loben.
Dann ist das Shooting vorbei, Lotti scheint zufrieden zu sein.
Josie hat ein kleines Buffet aufgebaut, das sich zwischen all dem Verfall irgendwie ganz malerisch macht.
Lotti plaudert mit Martha und Gloria, Sascha und ich beschäftigen uns lieber mit Essen und Trinken.
„War ganz okay, nicht?“, fragt Sascha.
„Abgesehen davon, daß du null Ähnlichkeit mit mir hast, ja.“
„Wer will dir schon ähnlich sehen? Deine Haare sind zu lang und du bist zu fett.“
Ich tue so, als wollte ich ihm mit der Sljivo-Flasche eins überbraten.
„Geb dir gleich fett, du Vogel!“, knurre ich.
„Deine Süße hat die Rotfeld im Sack, sage ich.“, meint Sascha.
„Stimmt. Sie ist so souverän geworden, sie kann es mit jedem aufnehmen.“ Ich bin sehr stolz auf sie.
Vor der Abreise wünscht Lotti Martha noch viel Glück für unsere gemeinsame Arbeit.
„Ich bin gespannt, was da noch so alles kommen wird.“, meint sie.
Martha strahlt.
Wir packen alles ein, sind kurz darauf zurück im Laden, holen Finchen dazu und feiern ein wenig einen weiteren Erfolg unserer Zusammenarbeit.
Zwei Tage später haben wir die Fotos und auf Lottis Internetseite sind sie auch zu sehen.
„Wie geil ist das denn?“, meint Martha begeistert.
Juri Adam, bis vor wenigen Monaten als Creative Director beim Düsseldorfer Modekonzern LCL erfolgreich, hat es wieder nach Berlin verschlagen. Als Korolok ist er sozusagen zu seinen Wurzeln zurückgekehrt, pfeift auf die Unterstützung eines großen Modehauses und macht wieder ganz sein eigenes Ding. Nun, nicht ganz seins allein, ist er doch eine sehr vielversprechende Geschäftsbeziehung mit seiner Lebensgefährtin Martha Wolf eingegangen, die sich als Designerin für Accessoires schon erfolgreich gezeigt hat. Die Zusammenarbeit der beiden könnte sich als ideale Kombination erweisen, da Gegensätze sich bekanntlich gerne anziehen. Beide bleiben ihrem eigenen Stil treu und schaffen gemeinsam aufregend Neues. „Korolok“, der „bad boy“ und Martha Wolf, sein „good girl“ könnten bald für eine sprudelnde Quelle an Inspiration und Innovation stehen.
Martha hüpft vor Freude juchzend im Kreis. Fällt Sascha um den Hals, der sie grinsend an sich drückt.
Dann steht sie vor mir, wir sehen uns in die Augen, dann fällt sie auch mir um den Hals.
„Ach, Juri …“, seufzt sie zufrieden.

Kapitel 24
Das Shooting mit Lotti ist wirklich ein schöner Erfolg für uns, da es uns bekannter macht als alles, was wir bisher erreicht haben.
In den nächsten Tagen erhalten wir verschiedene Anfragen von Modehäusern, nicht nur aus Deutschland.
Martha meint, wir müssten uns jetzt konkret überlegen, wie es weitergehen soll.
„Wenn nur die Hälfte von den Anfragen zu einem konkreten Auftrag führt, dann können wir das kaum schaffen, selbst wenn wir noch eine Näherin einstellen. Ich wüßte auch gar nicht, wohin mit der.“
„Größerer Laden?“, frage ich.
„Ja, neee … also eigentlich möchte ich, daß hier alles so bleibt, wie es ist. Ein kleiner, aber feiner Laden. Und eine Handvoll Leute, die wie Familie sind. Ich mein … so ‚ne Riesenmaschinerie … dann hätten wir auch bei LCL bleiben können.“
Ich atme erleichtert auf. Ich hatte sehr gehofft, daß sie sowas sagen würde.
Auf all das, was man zwingend bei einem Konzern wie LCL in Kauf nehmen muß, hab ich keinen Bock mehr.
„Sehe ich genauso.“, meine ich. „Das hier, das ist gut. Das reicht.“
„Dann sind wir aber auf Modehäuser und Boutiquen angewiesen, die selber fertigen können oder wir müßten eine Firma finden, die die Fertigung für uns übernimmt.“
„Daß noch mehr von meinen Modellen in Massenproduktion geht, möchte ich nicht.“, stelle ich klar.
„Ich hab da auch nicht an deine besonderen Designer-Stücke gedacht. Aber deine Moppel-Linie willst du doch weiterführen, oder? Die verkauft sich wirklich gut.“
Ich muß mich einfach dazu zwingen, auch ans Geschäft zu denken und daß wir von was leben müssen.
Leicht ist das nicht, Idealismus und Realismus unter einen Hut zu bringen.
„Und dann möchte ich wirklich gerne die Sache mit den Dessous voranbringen. Das Kundeninteresse ist ziemlich groß, ich werde immer wieder gefragt, ob wir nicht noch mehr in der Richtung anzubieten hätten.“
Ich weiß, ich habe es ja teilweise mitbekommen.
Martha telefoniert später mit Elisabeth von Lahnstein und sagt mir dann, daß diese zusammen mit ihrer Freundin morgen vorbeikommen will.
Und so sitzen die drei Frauen am nächsten Tag bei uns und sind schnell ins Gespräch vertieft.
Ich halte mich raus, kümmere mich mit Sascha um den Laden und arbeite nebenbei an meinen Entwürfen.
Carlo hat die beiden Damen beschnüffelt, entschieden, daß sie harmlos sind und sich dann wohl auf seinen Schlafplatz im Büro zurückgezogen.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich es gut finden soll, daß der Kater im Laden herumstreunt.
Und habe Martha gesagt, wenn der Kerl seine Krallen an meinen Modellen wetzt oder auch nur draufhaart, dann fliegt er raus aus dem Laden.
Sie war da ganz einsichtig, meinte, das ginge natürlich nicht, aber bis jetzt gab es keine Probleme mit Carlo.
Finchen nennt ihn ein pfiffiges Kerlchen und überhaupt, wenn Finchen auftaucht, hängt der Kater gleich an ihr.
Sascha meint, für ihn sähe es so aus, als würden die beiden tuscheln und was aushecken.
„Du spinnst echt.“, meine ich und verdrehe die Augen.
Martha schaut draußen immer nach Zetteln, auf denen nach einem schwarzen Kater gesucht wird, hofft aber inständig, nie einen solchen zu sehen.
Die Gräfin und ihre Freundin verabschieden sich, wünschen Martha und mir weiterhin viel Erfolg.
Martha erzählt mir später, daß die beiden sehr angetan sind von ihren Entwürfen. Beide wollen ebenfalls keine Massenware aus den Dessous machen.
„Die sollen in kleinen Boutiquen angeboten werden und über’s Internet erhältlich sein. Hättest dich am Gespräch beteiligen sollen, ihr hättet euch gut verstanden.“, grinst sie.
„Du weißt, daß das nicht meins ist. Mir reicht es, daß wir beide uns notwendigerweise über solche Dinge unterhalten müssen; ich sehe ja auch ein, daß ich mich damit befassen muß. Aber …“
„Ist ja schon gut.“, lacht sie.
„Aber sag mal, was sagt eigentlich Rebecca dazu? War es nicht ursprünglich so, daß die Dessous von ihr kommen und du die nur bei uns verkaufen lassen wolltest?“
„Na ja, Rebecca hat das Spaß gemacht, ein paar Modelle zu designen, aber eigentlich hat sie keine Zeit, sich da richtig drum zu kümmern. Charlie hat ihr Restaurant und Elisabeth mit der Familie auch genug um die Ohren. Deswegen sind sie alle ganz froh, daß ich meinen Spaß an den Dessous entdeckt habe. Ich bin die Designerin und Elisabeth und Charlie sind quasi meine Auftraggeber.“
„Hm, was bezahlen die dir denn?“, grinse ich.
„Oh, ich bin am Gewinn beteiligt. Ich mein, das ist doch für alle eine tolle Sache … ich kann mal was anderes machen als Accessoires, komm dir aber nicht in die Quere, Elisabeth und Charlie sehen ihre Idee verwirklicht, die Kundinnen bekommen tolle Dessous und …“
Martha ist wieder so süß eifrig, daß ich sie einfach küssen muß.
Und sie hat Recht, es ist eine gute Sache.
„Weit du noch, was du damals im Taxi zu mir gesagt hast? Als du mich überzeugen wolltest, in Düsseldorf zu bleiben?“
„Als ich dich eine sexbesessene Irre genannt habe?“
„Ja, das auch.“, lacht sie. „Nein, ich meine … du hast sogar extra drauf hingewiesen, daß es sehr wichtig sei … daß wir beide zusammen gut sind, ein Team und gemeinsam noch viel erreichen könnten. … Ich weiß, ich hab nicht sehr begeistert reagiert, weil ich Zweifel hatte, daß du Ansgar wirklich dazu bringen würdest, die Kündigung zurückzunehmen. Aber irgendwas in mir drin hat doch kapiert … daß du das ernst gemeint hast. Ich mein, du bist jetzt echt nicht so der Hellseher-Typ …“. Sie lacht wieder.
„Den Kurs hattest du ja belegt.“
„Stimmt.“, kichert sie. „Aber … was ich meine … obwohl du nicht wissen konntest, daß wir beide mal zusammenkommen würden … daß wir beide ein gutes Team sind und eine Menge erreichen können … das hast du wohl gewußt, geahnt, gespürt, was auch immer.“
Das will mir auch so scheinen.
Wir sind ein gutes Team und wir haben schon eine Menge erreicht.
Und dazu sind wir noch glücklich miteinander.
Zu Ostern hat sich Besuch angekündigt. Dana und Ricardo sowie Kim und Emilio wollen kommen und, wie es scheint, überlegt auch Thomas, Marthas Onkel, mitzukommen.
Dana hat wohl zu Martha gesagt, daß es echt nicht sein könne, daß sie unseren Laden noch nie in echt gesehen hätte, wo wir doch schon etliche Monate hier seien.
„Die Zeit ist aber auch so schnell vergangen.“, seufzt Martha.
Das ist sie in der Tat.
Und wir können sehr zufrieden sein.
Seit wir in Berlin sind, habe ich drei erfolgreiche Kollektionen herausgebracht, Martha hat zwei ebenso erfolgreiche Accessoires-Kollektionen auf ihrem Erfolgskonto zu verbuchen und gerade bereitet sie die erste Präsentation ihrer Dessous- und Nachtmoden-Kollektion vor.
Zusammen mit dem dazugehörigen finanziellen Gewinn stehen wir wirklich gut da.
Nicht, daß wir auf der faulen Haut liegen könnten. Aber das ist eh nicht unser Ding.
Aber … das Geschäft läuft.
Und für diesen Zeitpunkt hatte ich mir etwas vorgenommen.
In der Woche vor Ostern vereinbare ich ein Vorgespräch mit Sylvia Sonnabend, der Psychotherapeutin, die Ricardo mir empfohlen hat. Ich frage gleich, ob ich meine Partnerin mitbringen darf; das sei kein Problem, heißt es. Und Martha möchte sehr gerne mitgehen.
Auch Sascha bietet an, mich zu begleiten, wenn ich das will.
Ich würde gerne, Martha meinte, wir sollten die Therapeutin aber erstmal fragen, ob sie das für sinnvoll hält.
Ich bin nervös. Schon morgens bekomme ich keinen Bissen runter.
Ich gehe mit Martha eine Runde laufen, das hilft. Wir setzen uns auf eine Bank, sie lehnt sich an mich, es ist schön, ihren warmen Körper zu spüren.
Ich entspanne mich.
Als wir vor der Praxis stehen, werde ich wieder nervös.
Martha hält meine Hand, streichelt sie. Es ist gut, daß sie bei mir ist.
Dann werden wir eingelassen.
Sylvia Sonnabend stellt sich vor, ich stelle Martha vor.
Die Therapeutin führt uns in den Raum, in dem sie ihre Gespräche hält.
„Bitte sehen Sie sich in Ruhe um und fragen Sie sich ehrlich, ob das Umfeld Ihnen angenehm ist. Eine Atmosphäre, in der Sie sich nicht wohlfühlen, wäre kontraproduktiv.
Ich sehe mich also um.
Und sehe eigentlich ein Wohnzimmer.
Rötliche Teppiche, dunkle Holzmöbel, ein großes vollgestelltes Bücherregal.
Liegesessel, die sehr bequem aussehen.
Sogar einen Kamin gibt es, vermutlich eine Attrappe.
Ich begreife, was die Therapeutin meint. In einer Arztpraxis, wo es nach Desinfektionsmitteln riecht, mit dem grellen Licht und so weiter … da würde ich mich nicht wohlfühlen.
Aber hier sollte es mir eigentlich gelingen, zu entspannen.
Und zu reden.
„Was meinen Sie?“, fragt die Therapeutin nach einer Weile.
Ich nicke nur.
Sie bittet mich, Platz zu nehmen.
„Nun, was führt Sie zu mir?“
Ich habe mir kein bisschen zurechtgelegt, was ich sagen will.
Ich blicke zu Martha, sehe, daß sie gerne was sagen würde, sich aber zurückhält, weil es wohl wichtig ist, daß ich selber rede. Damit sich die Therapeutin ein Bild von mir machen kann.
„Das ist eine lange Geschichte.“, sage ich und finde, daß sich das bescheuert anhört, wie aus einem Kitsch-Film.
„Wir haben Zeit.“, meint die Therapeutin gelassen.
„Ich … ich bin 1977 in Zagreb geboren worden. Als ich fünfzehn war … sind meine Eltern … von kroatischer Bürgermiliz … erschossen worden. Ich … ich … war dabei … ich hab es mitanhören müssen …“
Martha greift nach meiner Hand, drückt sie sanft.
Ich merke, daß ich die Therapeutin nicht ansehen kann, aber das muß ich wohl auch nicht. Ich sehe Martha an, die mir einen so innigen, liebevollen Blick schenkt … und spreche weiter.
„Mein Vater hatte geahnt, was passieren würde. Er hat mich in einen Schrank gepackt und mir gesagt, ich solle da drin bleiben. Und so …“
Wieder brauche ich eine Pause.
„Ich bin nach Deutschland gegangen … hab gelebt, gearbeitet, mir eine neue Existenz aufgebaut, kam gut zurecht. Habe mir eingeredet, daß ich kein Problem mit meiner Vergangenheit habe. Daß ich jede Nacht Alpträume hatte … hab ich versucht, einfach zu ignorieren. Ich … habe auch nie mit jemandem darüber … geredet. Bis ich Martha traf. … Es war … ich …“
„Lassen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen. Sie können auch aufstehen, umhergehen, wenn es Ihnen dann leichter fällt, zu reden.“
In der Tat bin ich gerade ziemlich unruhig, obwohl Martha meine Hand hält. Und genau das kann ich gerade nicht ertragen, wieso auch immer.
Ich lasse sie los, gehe hinüber zum Fenster, sehe hinaus … und erzähle nach einer Weile weiter.
„Meine Mutter hatte gestrickt … als es … es passierte. Und Martha … hat auch gestrickt. Das hat … man nennt das wohl … posttraumatische Belastungsstörung.“
„Sie haben sich zurückversetzt gefühlt zu jenem Zeitpunkt.“
„Ja. Ich hab die Schritte der Milizen gehört. Und meine Mutter. … Ich stand völlig neben mir. Martha hat das gemerkt. Sie hat sich um mich gekümmert, mich nach Hause gebracht. Und … ich weiß nicht, wieso … aber ich konnte es ihr sagen. Was damals passiert ist. Niemals zuvor habe ich einem Menschen davon erzählt."
„Nun, es war eine Ausnahmesituation für Sie. Sie hat Sie in einem sehr emotionalen und verletzlichen Moment erlebt. Das kann eine vorübergehende Nähe schaffen.“
„Ja, so war es wohl. … Ich habe ihr auch gesagt … daß … ich einfach in dem Schrank geblieben bin … zugelassen habe, daß … daß meine Eltern ermordet werden.“
„Schuldgefühle.“
„Ja. Ich habe inzwischen begriffen, daß … ich es nicht hätte … verhindern können. Aber … zwanzig Jahre … hat mich das gequält … in meinen Alpträumen verfolgt. … Aber … da ist noch mehr. Nicht nur die Schuldgefühle. Ich habe all die Jahre keine Nähe zulassen können. Ich hatte panische Angst, noch einmal einen Menschen zu verlieren, den ich liebe. … Martha …“ Ich drehe mich um, sehe Martha an … „Sie ist zu mir durchgedrungen, obwohl ich alles getan habe, um sie von mir fern zu halten. Ich habe sie sehr verletzt … aber sie hat mich trotzdem geliebt … und irgendwann konnte und wollte ich mich nicht mehr dagegen wehren …“
Ich merke, daß ich lächle. Martha lächelt auch. Und die Therapeutin ebenfalls.
„Ich habe es gewagt. Meine Gefühle für sie zugelassen. Seitdem ist mein Leben ein gutes Stück weit leichter. Ich bin mit meinen Problemen nicht mehr allein.“
„Das alles klingt so, als hätten Sie eigentlich keine professionelle Hilfe nötig, sondern bräuchten nur einen kleinen Stups, wie Sie Ihre Vergangenheit zusammen mit ihrer Partnerin aufarbeiten und endgültig loslassen können.“
„Nun … wir haben bis vor einigen Monaten in Düsseldorf gelebt. Als Martha die Chance bekam, sich hier selbstständig zu machen … wollten wir es mit einer Fernbeziehung versuchen. Aber Martha war noch nicht weg, da … da hatte ich einen schrecklichen Alptraum … in dem sie gestorben ist. Deswegen bin ich sicher, daß … ich noch Verlustängste habe.“
Die Therapeutin nickt.
„Aber da ist noch was … vor einiger Zeit … bin ich dem Sohn des Mannes begegnet … der … meine Eltern ermordet hat. Und da … kam … all der aufgestaute Haß hoch. Ich … es … es wäre beinahe … etwas Furchtbares passiert. Und ich will nicht … daß sowas … jemals wieder passiert.“
Ich habe keine Ahnung, was die Therapeutin sich darauf zusammenreimt, aber das ist auch nicht wichtig.
Ich schnaufe tief durch. Ich habe es geschafft, dieser fremden Frau von meinen Problemen, meinen Ängsten zu erzählen.
Das allein ist schon ein Fortschritt.
Kapitel 25

Martha ist aufgestanden, kommt langsam auf mich zu.Ich ziehe sie in meine Arme, sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und flüstert mir „Ich bin stolz auf dich.“ ins Ohr.

„Ich mache das für uns.“, flüstere ich zurück. „Für mich, für dich … auch für Sascha. Ich will keinem von euch je wieder weh tun.“
Sie streichelt mir sanft durch's Haar.
Ich merke, daß ich vor Anspannung zittere.
Es war, es ist nicht leicht.
Die Therapeutin sitzt an ihrem Tisch, sagt gar nichts, läßt mich, uns machen.
Als Martha und ich uns voneinander lösen, sehe ich, daß sie sich einige Notizen gemacht hat.
Sie sieht mich an und fängt dann langsam an, zu sprechen.
„Was Sie erlebt haben … das prägt Ihr Leben, Ihr Verhalten. Sie haben versucht, das alles zu verdrängen und immer wieder gemerkt, daß das letztlich nicht funktioniert. Sie sollen auch weder verdrängen noch vergessen. Im Gegenteil … erst wenn Sie den Schmerz, den Verlust annehmen, akzeptieren, können Sie das Geschehene verarbeiten und als Teil Ihres Lebens, Ihrer Erfahrungen akzeptieren, ohne daß es Ihr weiteres Leben negativ beeinträchtigt.“
Ich nicke.
Daß ich das alles verarbeiten muß, weiß ich. Ich weiß nur nicht, wie.
Und das sage ich der Therapeutin auch.
„Nun, Sie haben ja schon damit begonnen. Sie haben Ihrer Partnerin von dem Geschehenen erzählt. Und Sie haben gemerkt, daß es Ihnen gut tut, nicht?“
„Aber ich habe wieder zugemacht, mich wieder zurückgezogen.“
„Sie haben durch das damalige Geschehen ein Trauma davongetragen … das muß man ganz klar so sagen. Das ist nichts, für das sich jemand schämen müßte, nichts Peinliches, keine Schwäche. Ich habe schon mit dem einen oder anderen kriegstraumatisierten Patienten gearbeitet und ich muß sagen, für das, was Sie erlebt haben, ist Ihr Problem verhältnismäßig geringfügig. Sie haben sogar ...“
„Ich wollte ihn erschießen!!! Ich wollte ihn eiskalt abknallen!!! Meine Eltern rächen!!! Und … und ...wenn ...“
Ich zittere wieder und muß mich setzen.
Starre auf meine Knie.
Ich bin versucht, sie anzuschreien, ob sie immer noch meint, mein Problem sei geringfügig.
Wie fast immer, wenn es um meine Vergangenheit geht, habe ich das Gefühl, daß niemand versteht …
Ich fühle mich hilflos, habe keine Ahnung, was ich tun soll.

„Hören Sie, was immer Sie erleichtert, was Ihnen hilft, tun Sie es. Nur tun Sie eines nicht – unterdrücken, runterschlucken. Wenn Sie etwas ändern wollen, müssen Sie damit aufhören.“
„Soll ich meinen Aggressionen freien Lauf lassen?“, frage ich.
„Genau das ist doch mein größtes Problem … der Haß, die Wut … haben Sie nicht gehört, was ich eben gesagt habe? Daß ich beinahe einen Menschen erschossen habe? Aus Rache? Ich habe mit einer geladenen Waffe vor ihm gestanden … und ich hätte ihn wirklich erschossen, wenn … wenn Martha sich nicht zwischen ihn und mich gestellt hätte … ich wollte es ... wollte ihn umbringen … und ich stand da, die Waffe auf die Frau gerichtet, die ich liebe!!! Und es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich die Waffe hab fallen lassen … viel zu lange … und dieser Mann, den ich erschießen wollte … es ist nur der Sohn des Mörders … er selbst hat nichts getan … und er war, er ist mein Freund ...“
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen,
Ich möchte um mich schlagen aus Verzweiflung, möchte heulen, ebenso aus Angst und Verzweiflung … beides gleichzeitig.
Martha steht neben mir, ich spüre ihre warme Hand, die sanft meinen Nacken streichelt.
„Ich glaube, Sie merken gar nicht, daß Sie gerade wieder einen Schritt in die richtige Richtung getan haben. Sie haben offen ausgesprochen, was Sie fühlen, wie es Ihnen mit diesem Erlebnis geht … Sie haben eingestanden, daß Sie große Angst vor der Unberechenbarkeit Ihres Traumas haben. Das ist viel, das ist wirklich eine ganze Menge.“
Ich sehe sie an.
„Und? Können Sie mir helfen?“
„In erster Linie müssen Sie sich selbst helfen. Jede Therapie kann nur soweit helfen, wie der Patient es zuläßt. Um es mal so zu sagen … wir begeben uns gemeinsam auf den Weg … ich begleite Sie, bin da, ich gehe nebenher, höre zu … und halte Sie fest, wenn Sie straucheln.“
Hm. Darüber muß ich nachdenken.
„Muß … sollte ich in eine Klinik? Ich meine … halten Sie mich für eine Gefahr, für eine tickende Zeitbombe?“
„Sehen Sie sich derzeit als akute Gefahr?“
„Wie soll ich das bitte beurteilen?“
„Was ist mit Ihrem Freund? Haben Sie noch Kontakt, wie begegnet er Ihnen? Und wie Sie ihm?“
„Ich … hab das sehr bereut … was … er hat mir verziehen. Er hat mir geglaubt, daß es mir leid tut. Er hat mir verziehen. Er ist mein Freund, er ist nach Martha der Mensch, dem ich am meisten vertraue. Er war auch … er hat …“
„Er hat Ähnliches erlebt wie Sie, hm? Das verbindet.“
„Sascha arbeitet für uns, wir sehen uns täglich, leben ziemlich eng zusammen. Und nein, ich glaube nicht, daß er Angst hat, daß sich sowas wiederholen könnte.“, sagt Martha.
„Nun, damit ist doch Ihre Frage schon beantwortet. Wenn der Mann, den Sie erschießen wollten, Ihnen vertraut … ich halte einen Klinikaufenthalt nicht für nötig. Überhaupt hat sich in der Psychotherapie einiges verändert. Früher hat man traumatisierte Patienten bewußt mit ihren Ängsten konfrontiert, um eine Desensibilisierung zu erreichen. Das hat auch oft funktioniert. Aber ebenso oft wurde das Gegenteil erreicht und das Trauma verschlimmert. Heute macht man es anders. Man überläßt dem Patienten die Entscheidung, in welchem Tempo er sich seiner Angst stellen will. Das Schlimmste ist ja immer, wenn der Patient fühlt, daß er ausgeliefert ist, daß ihm die Kontrolle entgleitet. Aber wenn er selbst bestimmen kann, auch mal einen Schritt zurückgehen kann, fühlt er sich sicher und man erreicht letztlich das Ziel schneller und der Erfolg ist beständiger.“
Was das jetzt konkret heißt, weiß ich zwar nicht, aber daß ich mich nicht irgendeiner Art Behandlung ausliefern muß, ist gut.
Wir vereinbaren einen Termin für nächste Woche und dann bin ich für heute entlassen.
Draußen muß ich erstmal mehrmals tief durchatmen.
Martha faßt gleich nach meiner Hand.
Wir machen einen langen Spaziergang. Martha sagt nichts, geht nur neben mir her, hält meine Hand.
So kann mein aufgewühltes Inneres zur Ruhe kommen.
Es stimmt, so frei zu sprechen, all das einer fremden Person zu erzählen … das war ein großer Schritt für mich.
Wenn ich so drüber nachdenke, finde ich, diese Therapeutin und ich könnten uns gut verstehen.
Es gefällt mir, daß sie kein bisschen moralisiert hat, als ich gestanden habe, beinahe Sascha erschossen zu haben. Sie wirkte nicht schockiert, nicht entrüstet … hat mich nicht als Kriminellen gesehen, als gefährliches Subjekt.
Ich begreife zwar, daß das auch nicht im Sinne einer Therapie sein kann … dem Patienten sein Fehlverhalten vorzuwerfen … aber trotzdem erstaunt es mich, wie gelassen sie reagiert hat.
Sie scheint viel Erfahrung zu haben und Ricardo hat sie mir anscheinend zu Recht empfohlen.
Er wird sich sicher freuen, das zu hören, wenn er nächste Woche kommt.

Zuhause warten Sascha und Denise auf uns. Natürlich wollen sie wissen, wie es war, das bemerke ich an ihren Blicken.
Aber sie lassen mich ganz in Ruhe.
Ich lächle ihnen zu, Sascha klopft mir auf die Schulter, murmelt „Du packst das, Alter.“.
Das hoffe ich sehr.
Ich sage zu Martha, daß sie den beiden gerne erzählen kann, wie das Gespräch verlaufen ist. Was mich angeht, habe ich für heute genug geredet.
Bis zum Abendessen vertiefe ich mich in meine Arbeit.
Später kommt Sascha zu mir.
„Alles okay?“
„Hm. Hat Martha dir erzählt? Von dem Gespräch?“
„Hat sie. Daß du offen Gefühle gezeigt hast.“
„Ich … ehm, hatte das Gefühl … daß sie … die Therapeutin … nicht kapiert … wie ernst die Sache ist.“
„Glaub ich nicht. Ist ihr Job, alles ernst zu nehmen. Ich mein, wer geht zum Spaß zum Psycho-Doc? Selbst der Sozialarbeiter, der mir zugehört hat, hat mich ernst genommen.“
„Ja … ja, vielleicht hast du Recht. Immerhin weiß sie nach meinem Ausbruch, daß es mir verdammt ernst ist.“
„Du hast dich schon sehr zum Positiven verändert. Als ich dich kennenlernte, hast du sofort dichtgemacht, wenn es um deine Gefühle ging. Martha tut dir wirklich gut.“
Ich nicke.
„Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich ohne sie …“
„Du merkst halt erst jetzt, was dir vorher gefehlt hat.“
Wieder nicke ich. Vor Martha ist mein Leben wirklich leer gewesen. Arbeit und schneller Sex ohne Gefühle …
Sicher, ich hatte auch Spaß. Aber das war doch alles eher oberflächlich.
Was Martha mir gibt, ist so viel mehr als ich vorher hatte.
„Alter, ich wollt‘ dich nicht wieder ins Grübeln bringen. Wollen wir zum Mexikaner und uns ‚nen entspannten Abend machen?“
Das ist keine schlechte Idee.
Und so sitzen wir vier später gemütlich beim Essen.
Sascha erzählt, daß ein Kumpel aus dem Box-Club vor ein paar Tagen eine kleine Bar aufgemacht hat.
Als Martha hört, daß dieser Kumpel Kroate ist, fragt sie: „Sowas wie ‚ne Balkan-Disco?“
„Disco eher nicht. Also, klar gibt’s da Musik und irgendwo ist auch immer ‚n Eckchen frei zum Tanzen. Aber es ist eben mehr Bar als Disco.“
„Würd‘ ich mir trotzdem gerne mal ansehen.“
Martha lächelt versonnen; ich bin mir sicher, sie erinnert sich gerade an damals.
„Laß mich raten … du denkst daran, wie du mich geküßt hast.“ Ich lächele sie an, zwinkere ihr zu.
„Na ja … erst hab ich dich geküßt. Aber ich entsinne mich, daß du den Kuß ziemlich schnell leidenschaftlich erwidert hast. Ich war hin und weg … ich meine, ich hatte das ja nicht geplant, dich zu küssen … aber der Sljivo und das Tanzen … und wie du mich nach dem Stolpler aufgefangen, mir deine Arme um dem Hals gelegt hast … ich konnte einfach nicht anders, ich mußte es tun. Und als du meinen Kuß dann so … so erwidert hast … in dem Moment wollte ich nur, daß das nie wieder aufhört … was hast du eigentlich dabei gefühlt?“
„Hm … ich war total überrascht. Gut, du hattest ja schon einmal versucht, mich zu küssen. Aber ich habe, glaube ich, nicht gedacht, daß du dich das wirklich traust … und dann so … ich glaube, mein Hirn hat da ausgesetzt und ich habe diesen Kuß einfach nur genossen. Ich will ehrlich sein … ich weiß nicht, ob dieser Kuß für mich was Besonderes war, ob ich tief in mir drin mehr gespürt habe. Vielleicht war ich damals noch nicht so weit und … ja, es war vielleicht einfach nur ein herrlich leidenschaftlicher Kuß aus einer lockeren Stimmung heraus und …“
"Hey, du mußt dich nicht entschuldigen. Nicht für so einen Kuß. Also … bei dem, was ich damals dachte, was du von mir denkst …“
Wir müssen alle lachen.
„… hätte ich eher erwartet, daß du mich angewidert von dir wegschiebst.“
„Sowas hast du mir zugetraut? Ernsthaft?“
Martha nickt zögerlich. „Na ja …“
Ich bin tief getroffen.
„Aber warum?“
Martha zögert mit der Antwort.
„Erinnerst du dich an das Mißverständnis mit dem Champagner, den ich dir nach Hause bringen sollte?“
„Du hast gedacht, wir beide … nicht?“
„Ja, hab ich. Ich hatte mir wirklich Hoffnungen gemacht … also nicht, daß wir … du weißt schon … gleich miteinander schlafen würden … aber daß wir ein paar schöne Stunden zusammen verbringen … vielleicht habe ich auch drauf gehofft, daß wir uns küssen … Aber gut, ich hab schnell kapiert, wie dumm das von mir war, ich und meine unrealistischen Tagträume.“
„Und deshalb hast du gedacht … ?“
„Nein, nicht deshalb. Sondern wegen dem, was du diesem Model gesagt hast, als du dachtest, ich wäre schon weg. Aber ich stand noch draußen und hab alles mitgekriegt.“
Ich überlege angestrengt, kann mich aber nicht entsinnen.
„Hilf mir mal auf die Sprünge.“
„Also, du hast dieser … gesagt, ich sei deine Assistentin. Sie hat mich aber eher für deine Putzfrau gehalten und gemeint, daß deine Assistentin wohl mehr wie sie aussehen sollte. Worauf du gesagt hast, wie du dich dann bitte konzentrieren solltest. Sie sagte dann, ich würde dich sicher nicht von der Arbeit ablenken. Und du hast gelacht und gesagt ‚sicher nicht‘. Da wußte ich, wo mein Platz ist.“
Ich weiß erstmal nicht, was ich sagen soll. Verlegen fahre ich mir durch die Haare.
„Ich hab keine Ahnung, wie ich eine solche Scheiße von mir geben konnte. Weil das nämlich ganz und gar nicht meine Meinung ist. Du weißt, was ich davon halte, seine Mitmenschen zu demütigen. Und sowas hinter dem Rücken anderer zu machen, ist noch schlimmer.“
„Da war aber noch was …“
„Raus damit.“, fordere ich sie auf.
„Das war nach der Fashion-Show. Du hast bei LCL mit Tristan zusammengegluckt. Ihr habt euch über mich unterhalten. Du hast zwar meine Arbeit gelobt, aber schön mitgelacht, als Tristan mich als eine durchgeknallte Hummel bezeichnet hat. Und als er meinte, als Frau sei ich aber eher speziell, hast du gesagt, eine Frau sei ich nicht. Und ich war wieder mal völlig fertig und hab auf’m Klo geheult.“
Nun weiß ich wirklich nicht mehr, was ich sagen soll.
Ich stehe auf, ziehe sie hoch in meine Arme.
Sehe ihr in die Augen und sage: „Du weißt, ich war ein Idiot. Wahrscheinlich bin ich immer noch ein Idiot. Aber ein Idiot, der kapiert hat, was für eine wundervolle Frau du bist und der dich wirklich liebt.“
„Ich weiß.“, sagt sie, lächelt mich an … und küßt mich zärtlich.
„Komm, ich will diese Bar sehen.“

Der Abend wird noch lustig. Wir trinken Sljivo, kickern mit Begeisterung und später tanzen Martha und ich eng aneinander geschmiegt.
Dabei erzählt mir Martha: „Ich hab dir an dem Abend in der Balkan-Disco übrigens gestanden, daß ich mich in dich verliebt habe. Aber du hast es nicht mitgekriegt, du warst schon wieder auf der Tanzfläche. Da sag ich es einmal … und du hörst mich nicht.“
„Denk nicht, daß ich das gemacht hab, weil ich dich schon aus dem Sinn hatte. Im Gegenteil. Ich hab einfach nicht weiter darüber nachdenken wollen, daß ich dich verliere, daß ich dich nie wiedersehen werde … wollte nur den Kopf zumachen … und natürlich wollte ich vor dir meine Gefühle nicht zeigen, dir nicht zeigen, wie nah mir die Scheiße geht …“
„Deine kernigen Sprüche im Taxi … die dienten auch dazu, deine wahren Gefühle zu überspielen, nicht?“
„Natürlich.“
„Muß ganz schön anstrengend sein, sich immer zu verstellen.“
„Nach zwanzig Jahren hat man Übung.“, seufze ich. „Aber das ist vorbei. Ich hab zwar noch ‚ne Menge zu lernen, aber du ja bist ja eine sehr geduldige und rücksichtsvolle Lehrerin.“
„Die dir ab und zu auch mal die Löffel langzieht, wenn du es verdient hast. … Apropos Löffel … in drei Tagen ist Ostern, wir müssen uns so langsam mal auf unseren Besuch vorbereiten.“
„Du machst da aber keinen Staatsempfang draus, oder?“
„Quatsch.“
So wirklich Lust habe ich nicht auf den Besuch, freue mich aber für Martha, die sich sehr auf ihre Familie freut.

Kapitel 26

Martha betreibt wirklich nicht viel Aufwand für den Besuch. Sie schickt mich einkaufen, während sie die Wohnung putzt.










Übertreib’s nicht damit.“, mahne ich sie.

Iwo. Ich hechel ganz bestimmt nicht jedem Staubkorn hinterher. Meine Familie ist nicht so. Eher rustikal. Ich mein … ganz normal sauber und ordentlich reicht.“

Ich merke schon, meine Mahnung war überflüssig.

Sascha begleitet mich.

Martha meint, seine Ražnjići seien als Osteressen gut geeignet. Oder ob wir was dagegen hätten, wenn diese Spieße bei uns zur Tradition würden?

Haben wir nicht.
Aber wir haben bald alles zusammen, was auf der Liste steht.
Als wir wieder da sind, ist auch Martha fertig.
Den Wohnzimmertisch schmückt eine Decke mit Ostermotiven und eine Vase mit Weidenkätzchen. Das ist alles.
Da wirkt unser Laden beinahe österlicher, weil Martha ganz locker ein Sortiment an wollenen Eiern, Häschen und so weiter aus dem Ärmel geschüttelt hat.
Ich kann so Häkelkarnickeln nicht viel abgewinnen, aber ihre Sachen sind mal wieder der Renner und viele Kiddies sind ganz verrückt danach.
Während Sascha und ich die Einkäufe auspacken, häkelt sie schnell noch je so ein Ostertier für Thommy und ihr Patenkind Maxi.
Auf dem Rückweg vom Kühlschrank will ich Martha küssen, doch kommt mir Carlo in die Quere. Ich kann so eben noch ausweichen, fluche herzhaft, worauf Martha mich tadelnd ansieht.
Ich hab geflucht, weil ich ihn fast getreten hätte. Auch wenn’s mitunter nicht so aussieht, aber ich mag ihn und fänd’s scheiße, ihm wehzutun, auch wenn’s nur aus Versehen ist.“, maule ich, weil ich mich ungerecht behandelt fühle.
Sorry.“, meint Martha.
Katzen laufen einem immer vor die Füße, ich kenn das.“, lacht Sascha. „Wir hatten drei Katzen zuhause. Und sie lieben Tüten. Die rascheln so schön, da können sie nicht widerstehen.“
Aha.“, brumme ich. An meinem Katzenwissen muß ich wohl noch arbeiten.
Carlo ist nicht nachtragend und reibt sich an meinen Beinen. Ich bücke mich, kraule ihm den Rücken und er schnurrt zufrieden. „Wie du, wenn ich dich am Rücken krabble.“, lächle ich Martha an.
Was, ich schnurre?“, kichert sie.
Ja, so ähnlich.“
Du hast aber auch sehr einfühlsame Hände.“, seufzt sie und sieht mich so zärtlich an, daß mir ganz warm wird.
Wir können gerne …“
Sascha unterbricht mich. „Du mußt deine Süße heute mal woanders schnurren lassen, ich will bisschen was für morgen vorbereiten.“
Du tust ja so, als würden Juri und ich es dauernd in der Küche treiben.“ Martha kichert schon wieder.
Und ich hatte gar keinen Sex im Sinn, ich wollte Martha eigentlich nur ein bisschen sanft massieren.“, verteidige ich mich.
Ja ja … wohin das führt, weiß ich.“, grinst Sascha.
Ach, denk doch, was du willst, mir egal.“, grummele ich scheinbar beleidigt.
Sascha baut einige Zutaten für seine Ražnjićium sich herum auf und fängt an, Zwiebeln zu pellen.
Ich helf dir.“, meint Martha und greift sich ein Küchenmesser.
Ich muß wohl ziemlich blöd aus der Wäsche geguckt haben, denn Martha meint: „Juri, das ist eigentlich mein Besuch. Da kann ich Sascha wohl kaum alleine wurschteln lassen.“
Also meinetwegen kannst du abzischen und dich von Juri verwöhnen lassen. Ich schaff das hier alleine, kein Thema.“, bietet Sascha großzügig an.
Nee, nee, kommt nicht in Frage.“, lehnt Martha entschieden ab.
Ich fahre mir verlegen durch die Haare. „Ich sollte mithelfen, was?“
Damit wir doppelt solange brauchen?“, lacht Martha. „Nee, du … geh du ‚ne Runde laufen oder tue sonstwas, aber laß uns hier mal machen.“
Ja ja, schon gut, ich hab kapiert, daß ich störe.“, tue ich wieder beleidigt, weil ich genau weiß …
Und tatsächlich kommt Martha um den Tisch herum, legt mir ihre Arme um den Hals und flüstert mir zu „Du bekommst schon deine Entschädigung dafür, daß wir dich grad rauswerfen.“ Dann küßt sie mich lang und innig.
Und ich lächle glücklich, während ich mir meine Jogginghose anziehe.
Lange laufe ich nicht, denn ich habe tatsächlich ein schlechtes Gewissen, daß die beiden arbeiten und ich nicht.
Und so schnappe ich mir nach meiner Rückkehr das Putzzeug und wienere den Laden. Und weil ich gerade so in Schwung bin, schaffe ich im Hinterhof noch ein wenig Ordnung.
Finchen gesellt sich zu mir.
Alles okay, Junge?“
Mhhhh.“, brumme ich. „Wir bekommen morgen Besuch – Marthas Onkel, zwei ihrer Cousinen und deren Partner kommen.“
Und da soll euer Zuhause einen guten Eindruck machen. Komm, ich mach das, das ist nicht dein Ding.“
Das mag ja stimmen, aber daß Finchen den Hof aufräumt, während ich nichts tue … also das geht ja mal gar nicht.
In der Küche bin ich unerwünscht und so ist das hier das Einzige, womit ich mich nützlich machen kann.“, sage ich und räume die Geranien wieder auf die jetzt saubere Fensterbank.
Na gut, dann machen wir es eben zusammen.“
Ich nicke nur, weil es keinen Zweck hat, sich mit Finchen zu streiten. Sie hat fast immer das letzte Wort.
Freust du dich auf euren Besuch?“
Ja und nein. Du kennst mich ja inzwischen. Ich bin nicht so gesellig und rede auch ungern viel. Aber ich mag Marthas Familie, das sind liebe Menschen.“
Das ist doch schön. Und wenn man sich versteht, dann braucht es doch gar keine Worte.“
Ja. Das merke ich an Martha.
Es ist nur … ich hab grad eine Therapie angefangen … will die verdammten Altlasten aus dem Krieg endlich loswerden … und mir geht soviel im Kopf rum.“
Denkst, das alles und der Besuch sind ein bisschen viel auf einmal, was?“
Jein. Ich weiß einfach nicht, ob ich mich richtig auf Marthas Familie einlassen kann oder mit dem Kopf immer ganz woanders bin.“
Als ob dir deswegen einer böse wäre! Und falls doch, schick ihn oder sie zu mir.“ Finchen schwingt drohend ihren Hexenbesen.
Ich muß grinsen.
Ach, hier bist du!“ Martha steht auf einmal neben mir, legt ihren Arm um mich.
Ich drücke sie fest an mich.
Finchen und ich haben hier ein wenig Ordnung gemacht.“
Hm, ja, man hat schon gemerkt, daß der Hof im Winter selten genutzt wurde. Aber sieht doch super aus jetzt.“
Danke. Und ihr … seid fertig?“
Mit dem Essenvorbereiten? Klar. Denise ist auch inzwischen da. Wir wollen jetzt Eier färben und ein paar Nester zurechtmachen. Gesellst du dich zu uns und oder kriegt du bei soviel Osteridylle ‚ne Krise?“
Ich nehm’s als Generalprobe für morgen.“, grinse ich und Martha grinst zurück.
Eier ausblasen … find‘ ich im Prinzip keine schlechte Idee.“, hören wir, als wir zur Küchentür reinkommen.
Du wieder und deine dreckige Phantasie.“, schimpft Denise zärtlich mit Sascha.
Der erblickt mich und fragt gleich: „Wie magst du deine Eier denn am liebsten?“
Gestreichelt. Ganz sicher nicht bunt angemalt.“
Oder in die Pfanne gehauen.“, lacht Denise.
Autsch.“ Sascha zerdrückt aus Versehen sein Ei.
Was habt ihr denn auf einmal für Gesprächsthemen?“, prustet Martha.
Na, als Denise was von Eierausblasen meinte … was denkst du denn, was Mann da denken soll?“, verteidigt sich Sascha und beseitigt das zermatschte Ei. „Aber hast Juri ja gehört … bin also nicht der Einzige hier, der so Gedanken hat.“
Kerle!“, seufzt Denise.
Sind wir echt so schlimm?“, frage ich Martha.
Quatsch.“, kichert sie. „Also, ich zumindest will keinen verklemmten, prüden Freund, der die Dinge nicht beim Namen nennt und mit dem es nur Blümchensex unter der Bettdecke gibt. Und ob man es jetzt Oralsex nennt oder Eierausblasen … ist doch trotzdem dasselbe.“
Wir sehen uns reihum an … und dann platzen wir los, lachen, bis wir Bauchweh haben.
Bei mir zumindest löst das alle Spannungen.
Und so kann ich mich sogar drauf einlassen, auch ein paar Eier zu färben, kleine Körbchen mit künstlichem Gras auszulegen und so ‚nen Kram.
Martha häkelt einigen Eiern noch witzige Überzüge.
Aus den Bastel-Unfällen macht Denise uns Rührei mit Schinken. Vor allem Sascha passiert der ein oder andere Unfall.
Ich frage mich, ob du wirklich so ungeschickt oder nur verfressen bist.“, lacht Denise.
Sascha grinst nur frech.
Sei froh, daß sie deine Eier mit mehr Sorgfalt behandelt.“, meine ich.
Finde ich aber auch.“, stimmt Denise mir zu.
Ist’s okay, wenn Juri und ich uns ‚nen Sljivo genehmigen?“, fragt Sascha.
Natürlich, wieso fragst du?“ Denise ist verdutzt. „Oder habt ihr vor, euch volllaufen zu lassen?“
Türlich nicht. Aber soviel Eier sind schwer verdaulich.“
Es wird noch ein lustiger Abend. Bis Martha und Denise meinen, nun sei es genug, wir sollten morgen frisch und munter sein. Was Sascha und ich auch einsehen.
Als Martha und ich im Bett liegen, fällt mir wieder ein, daß Martha mich doch für’s Rauswerfen entschädigen wollte.
Aber sie kuschelt sich nur an mich, seufzt zufrieden und schließt die Augen.
Und ich bin doch zu sehr Gentleman, um ihr Versprechen einzufordern.
Am Morgen wache ich auf, habe das Gefühl, einen ungemein erotischen Traum gehabt zu haben und denke, jetzt ist es Zeit, Versprechen hin oder her.
Will mich rumdrehen und Martha an mich ziehen.
Aber das geht nicht.
Ich bin nämlich festgebunden.
Zumindest schlingen sich irgendwelche Tücher um meine Handgelenke und als ich den Kopf drehe, sehe ich, daß sie an den Bettpfosten enden.
Es ist noch dämmrig im Zimmer, aber ich erkenne, daß Martha auf der Bettkante sitzt.
Guten Morgen, mein Schatz.“, haucht sie mir entgegen. "Alles Liebe und Gute zum Geburtstag!"
Sie beugt sich über mich und küßt mich sehr, sehr innig.
Geburtstag ... stimmt ja. War mir beinahe entfallen, da wir gar nicht darüber geredet haben.
Wie war das noch? Neben mir einschlafen und nackt und gefesselt an dein eigenes Bett aufwachen?“
Ich brauche einen Moment, aber dann weiß ich, was sie meint.
Ein angenehmer Schauer durchfährt meinen ganzen Körper.
Hatte ich sie damals nur necken wollen, so ist der Gedanke, ihrer Lust aufgeliefert zu sein, jetzt mehr als erregend.
Und so laß ich mir Geburtstage gefallen.
Sie kniet sich über mich, streift sich ihr Nachthemd ab.
Und sie in all ihrer Pracht sehen, aber nicht berühren zu können …
Ich stöhne ebenso ergeben wie sehnsüchtig.
Die Tücher sind übrigens ganz locker geschlungen. Ich könnte da sofort raus. Will ich aber nicht.
Ausgesprochen gut gelaunt mache ich später Frühstück, zu dem sich wie immer sonntags auch Sascha und Denise einfinden.
Sascha fällt meine gute Laune gleich auf.
Hat deine Süße dich schön verwöhnt, hm?“
Ich lächle nur selig.
Okayyyy, brauchst gar nichts sagen, ist alles sonnenklar.“
Was ist sonnenklar?“, fragt Martha, die gerade reinkommt.
Daß der Tag für deinen Schatz nicht besser hätte anfangen können.“
Hm ja, das denke ich auch.“, grinst sie und sieht mich dann so zärtlich an, daß ich sie einfach an mich ziehen muß. Einfach im Arm halten, mein Gesicht in ihr weiches Haar drücken, nichts weiter.
Ich liebe sie so sehr.
Marthas Handy klingelt. „Dana, hey! … In einer halben Stunde? … Wir freuen uns riesig!“ Martha war gleich beim Klingeln aufgesprungen und ist nun ganz zappelig.
„Die sind in einer halben Stunde hier! Haben wir … ? Ist denn auch …?“ Aufgeregt trippelt sie mal in die eine, dann in die andere Richtung.
Bis ich auch aufstehe, sie bei den Schultern fasse und sie dazu bringe, mir in die Augen zu sehen.
„Ja … ja, ich weiß …“, grinst sie. „Aber ich freu mich so!“
Das soll sie auch.
Sie küßt mich flüchtig und wuselt wieder los. Und ich lasse sie, so ist sie nun mal.
Die halbe Stunde vergeht schnell.
Sascha und ich frühstücken in Ruhe fertig, während unsere Mädels ein letztes Mal Ordnung schaffen.
"Sag mal, Alter, warum hast 'n du nix von deinem Geburtstag gesagt? Martha hat's eben erzählt."
"Ist ja nicht wichtig."
"Trotzdem - alles Gute wünsch ich dir, Mann!"
"Danke."
Weiter wird kein Aufhebens drum gemacht und das ist gut so. Aber Martha kennt mich ja und kann sich sicher gut vorstellen, was für ein Horror es für mich wäre, wenn der Besuch ihrer Familie jetzt in eine Geburtstagsparty für mich ausarten würde.
Sie bringt mich dazu, schon mal mit ihr runterzugehen. Da die Sonne scheint, warten wir draußen.
Meine Süße läuft hin und her und sieht immer wieder auf ihre Uhr. Zwischendurch lehnt sie sich an mich, meint wieder, wie sehr sie sich freue.
Ich denke nur, wenn ihre Familie jetzt zwei oder drei Stunden später käme, wäre Martha vor Aufregung völlig ausgepowert.
Aber da ruft es „Martha! Huhu!“ und wenige Augenblicke später kann meine Süße ihre Freude endlich ausleben.
Sie fliegt Dana und Kim förmlich entgegen und erst der einen, dann der anderen um den Hals.
Emilio grinst mich an, wir umarmen uns kurz. „Alles klar?“
Ich nicke nur.
„Juri! Na, laß dich mal begrüßen!“ Thomas schüttelt mir herzhaft die Hand. Dann sieht er zu Martha und seinen Töchtern hinüber und lacht.
Während Emilio Sascha und Denise begrüßt und Thomas immer noch die Mädels beobachtet, kommt Ricardo, der Arzt auf mich zu. Auch wir begrüßen uns.
„Habt ihr euren Sprößling nicht mit?“, frage ich.
„Nein, Maxi ist mit Jessica bei Biggi, die Thommy hütet. Die Kinder zu so ‚nem Kurzbesuch mitzubringen wäre mehr Streß als alles andere gewesen. Jessi versteht sich gut mit ihrer Pflegemutter und die Kinder sind einander auch gewöhnt. Das paßt schon.“
„Mal ohne Kind ist wahrscheinlich auch ganz schön.“, meine ich.
„Ich möchte den kleinen Burschen nicht mehr missen, aber ja, mal ein, zwei Tage ohne ist okay.“, grinst Ricardo vielsagend.
Dann werden die Knuddelpartner getauscht. Martha läßt sich von Thomas drücken, während Dana und Kim nun auch mich begrüßen.
„Hattest du Weihnachten auch schon so ‚ne Matte?“, lacht Kim und zauselt an meinen Haaren.
Ein wenig länger sind sie wohl, aber auf die Schulter fallen sie mir noch nicht.
„Schaut doch gut aus.“, meint Emilio. „Juri ist Künstler, der muß ‚n bisschen verwegen aussehen.“
„Hauptsache, Martha gefällt’s.“, lacht Kim.
„Ich liebe es, meine Hände in seiner Haarpracht zu vergraben.“, meint Martha, die auf einmal neben mir steht, mir zur Bekräftigung ihrer Worte durch die Haare fährt, mich sehr verliebt ansieht und mich dann zärtlich küßt.
„Also, ich sag mal, wir haben lang genug auf der Straße rumgestanden, oder?“ Sascha sieht Martha und mich an.
Martha hüpft gleich los, öffnet die Ladentür und meint: „Ja, denn, willkommen bei den ‚good girls‘ und ‚bad boys‘ … wobei unsere Jungs eher lieb sind.“ Sie lacht mir und Sascha zu.
Gepäck hat unser Besuch wenig dabei, Rucksäcke und ein paar Taschen und das ist schnell im Laden abgestellt.
Martha bietet eine kleine Besichtigungstour an und ist mal wieder in ihrem Element.
Thomas hat ihr den Arm um die Schulter gelegt und ist sehr interessiert, als sie erzählt, was sich in letzter Zeit so bei uns getan hat.
„Ah, da ist Finchen. Die MÜSST ihr kennenlernen!!!“
In der Tat wuselt Finchen im Hof herum. Und mir fällt ein, daß ich es wohl irgendwie als selbstverständlich genommen habe, daß sie heute mit dabei sein würde. Dabei hätte sich eine richtige Einladung schon gehört.
„Also, das ist Finchen, unser guter Hausgeist. Sie ist echt unentbehrlich und wir möchten sie nicht mehr missen.“
Finchen wird tatsächlich etwas rot.
„Jaaa, wenn Finchen nicht auf uns aufpassen würde …“, lacht Sascha.
„Und das ist mein Onkel Thomas, meine Cousinen Dana und Kim. Emilio, Kims Mann und Ricardo, Danas Partner. Und …"
„Du, mehr sind wir nicht.“, lacht Dana.
Martha hatte sich nämlich umgedreht, um die nächste Person vorzustellen. Als sie nun merkt, daß sie schon alle durch hat, lacht auch sie.
„Geht Ihnen die Bande nicht auf die Nerven? Mit ihren verrückten Ideen für diese Fummel und so?“, fragt Thomas.
„Papa!“ Dana schaut ihren Vater mißbilligend an.
„Och, wir passen eigentlich gut zusammen. Bisschen verrückt bin ich ja auch. Ich mag das, daß es hier so lebhaft zugeht und die vier hier sind liebe, anständige Menschen, die hart arbeiten.“
Nun wird Martha rot und auch Sascha schaut etwas verlegen drein.
Carlo kommt angeschnürt und hopst mir auf die Schulter. Ich bin froh, daß ich meine Lederjacke anhabe, sonst hätte das schmerzhaft werden können.
„Wo kommt die denn her?“, fragt Kim erstaunt.
„Das ist Kater Carlo. Er hat uns adoptiert.“, erklärt Martha.
„Ja, wie?“
„Na ja, er ist eines Tages hier aufgetaucht und hier geblieben. Bis jetzt scheint ihn keiner zu vermissen.“, erklärt Sascha.
„Das muß jetzt auch keiner mehr.“, meint Martha entschieden.
Kim krault den Kater unter dem Kinn. „Du bist ja süß.“
Gut, daß ich weiß, wer gemeint ist.
„Kommt, wir zeigen euch die Wohnung.“ Martha ist zappelig.
Dana folgt ihr gleich, Ricardo lächelt unverbindlich; ich glaube, der fühlt sich im Moment eher wie Danas Anhängsel. Thomas ist noch mit Finchen im Gespräch und bekommt die Wohnungsbesichtigung gar nicht mit. Aber Kim und Emilio folgen den dreien, obwohl sie unsere Wohnung ja schon kennen.
Sascha und Denise gesellen sich zu mir.
Ich setze Carlo ab, der Bursche wird mir langsam zu schwer. Muß er sich einen neuen Beobachtungsposten suchen, von dem aus er alles unter Kontrolle hat.
„Und?“, will Sascha wissen und mir ist klar, er meint, wie ich mich mit dem Trubel fühle.
„Ist okay.“, meine ich nur und das stimmt.
Diese Menschen kennen mich … nun, zumindest soweit, daß sie wissen, daß ich nicht sehr gesprächig bin und sie werden deshalb auch nicht beleidigt sein, wenn ich mich an den Unterhaltungen nicht groß beteilige.
Thomas kommt zu uns rüber.
„Und du stakst also echt als Model auf dem Laufsteg rum?“, fragt er Sascha und man merkt, daß er sich das Lachen kaum verkneifen kann. „Du siehst so gar nicht danach aus, als würde dir das liegen.“
„Liegt mir auch nicht. Aber ich mach’s gern, weil ich Martha und Juri damit helfe. Und so schlimm ist es auch wieder nicht. Ja, ist eigentlich fast ‚ne coole Sache.“
„Und die Einkäufer rennen euch die Bude ein, ja?“, wendet Thomas sich nun an mich.
„Das zu behaupten, wäre übertrieben. Aber man ist an uns interessiert und bis jetzt haben wir alles verkaufen können. Und zu keinem schlechten Preis.“
„Aber du bleibst auf dem Teppich, nicht?“
Mir kommt das wie eine Mahnung vor. Die allerdings unbegründet ist. Selbst, wenn wir Millionen scheffeln würden, würde ich meine Nase nicht höher tragen als sonst.
„Mir ist die Aussage in meiner Mode das Wichtigste. Wenn wir von unserem Laden leben können, dann bin ich glücklich. Mehr brauch ich nicht.“
„Juri ist immer der Erste, der sich auf diesen Fashion-Parties verpißt. Total das Gegenteil von ‚ner Rampensau.“, verteidigt Sascha mich.
„Sorry, wenn meine Bemerkung so rübergekommen ist, als würde ich befürchten, der Erfolg würde dir zu Kopf steigen. Daß euer Laden läuft und ihr klarkommt, freut mich echt.“
Auf der Treppe hören wir Getrappel.
„Papa! Willst du Marthas und Juris Wohnung gar nicht sehen?“, fragt Dana vorwurfsvoll. „Die ist echt schön.“
„Aber die läuft mir doch nicht weg. Aber aus ‚ner Unterhaltung einfach so abhauen, das ist unhöflich.“
„Kinders, wollt ihr nicht draußen essen?“, fragt Finchen. „Ist doch schön warm heute.“
„Gute Idee. Wir alle oben in der Wohnung … wär schon was eng geworden.“ Martha strahlt.
Sie will gleich wieder hochlaufen, wohl, um sich gleich darum zu kümmern, als sie nochmal kehrtmacht und zu mir kommt.
„Alles okay?“, fragt sie leise.
Ich nicke und sie küßt mich zärtlich.
Gemeinsam gehen wir dann nach oben, holen Geschirr, Besteck und was wir so brauchen. Sascha und Denise kümmern sich um das Essen, Emilio trägt die Getränke nach unten.
Thomas und Ricardo helfen Finchen beim Tischdecken und bei sovielen helfenden Händen sitzen wir schon bald im Hof und lassen es uns gutgehen.
Wobei, Martha sitzt eher wenig. Immer wieder springt sie auf, um etwas zu holen und herzuzeigen. Seien es ihre Accessoires, die Häkeltiere für die Kleinen oder die Fotos, die sie von Sascha als Model gemacht hat.
Sascha unterhält sich mit Kim und Emilio.
Ich beobachte Martha und bin glücklich dabei.
Ich bin allerdings nicht der Einzige, der kaum redet. Ricardo ist auch sehr schweigsam.
Irgendwann wendet er sich an mich.
„Hast du schon Kontakt zu der Therapeutin aufgenommen, die ich dir empfohlen habe?“
„Ja. Ich hatte vor ein paar Tagen ein erstes Gespräch mit ihr.“
„Und? Was hast du für ein Gefühl dabei?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sie mir helfen will.“
„Ist sie dir sympathisch? Kannst du offen reden?“
„Ich denke, ich kann ihr vertrauen – das meinst du sicher.“
„Du darfst nicht gleich soviel erwarten. Sie muß dich erst kennenlernen, dich einschätzen lernen, damit sie weiß, wie sie dich anpacken muß. Dazu gehört, daß sie anfangs eher nur zuhört. Und sich danach Gedanken macht. Habt ihr schon darüber gesprochen, was genau du von der Therapie erwartest? Üblich ist, daß du und der Therapeut euch ein oder mehrere klare Ziele steckt, die ihr gemeinsam erreichen wollt.“
„Nein, darüber haben wir eigentlich nicht gesprochen. Ich will den Haß in mir loswerden. Also, was davon noch übrig sein mag. Ich will keine tickende Zeitbombe mehr sein.“
„Genau das mußt du ihr sagen. Sag ihr genau, wie du sein möchtest, wenn die Therapie beendet ist.“
"Ich weiß nicht … das ist doch alles so diffus … ich meine, wer Klaustrophobie hat oder sowas, der hat doch was Konkretes …“
„Du meinst, dein Problem sei weniger greifbar.“
„Ja. Es ist ja nicht so, daß ich irgendwas Bestimmtes oder eine bestimmte Person hasse.“
„Ich will meiner Kollegin nicht vorgreifen, aber im Prinzip läuft es darauf hinaus, daß du mit dir selbst ins Reine kommen mußt. Es spielt keine Rolle, ob deine Ängste, deine Probleme klar definiert werden können. Nicht bei jedem, der eine Spinnenphobie hat, ist die Spinne das Problem.“
„Ich bin das Problem.“, seufze ich.
„Sprich offen und ehrlich mit meiner Kollegin. Und hab Geduld mit dir selbst. Was du zwanzig Jahre oder wie lang auch immer mit dir rumgeschleppt hast, wirst du nicht in drei Sitzungen wieder los. Aber ich bin sicher, daß du das Ziel, das du dir steckst, auch erreichen wirst. Und du bist ja auch nicht alleine. Du hast deine Frau, deine Freunde, die offenbar treu zu dir stehen, dich unterstützen.“
Das tun sie wirklich.
Irgendwie fühle ich mich nach diesem Gespräch besser.
Es wird sich alles finden, denke ich.

Kapitel 27

„Also, diese Spießchen sind ja wirklich oberlecker!“, meint Thomas begeistert.
„Oh ja!“, stimmt Dana ihm mit vollen Backen zu.
„Danke.“, grinst Sascha.
„Mit den Dingern kann man echt immer punkten.“, lacht Martha, die auf meinem Schoß sitzt.
„Hatte er dich damit nicht auch rumgekriegt?“, frage ich scherzhaft.
„Ja, nee … also so war das dann doch nicht. Bisschen mehr als Spieße muß man mir schon bieten.“, lacht sie wieder.
„Du bist nicht leicht zu haben. Bei dir muß man ganzen Einsatz bringen. Aber was man dafür kriegt, ist … hm, einfach gigantisch!“ Ich muß sie küssen.
Nach dem Essen ziehen wir alle los.
Alle bis auf Finchen, die sich nicht davon abbringen läßt, hier Ordnung machen, während wir spazierengehen.
Martha und ich wären fast in Streit mit ihr geraten.
„Jetzt aber raus hier, ihr junges Gemüse! Ich will meine Ruhe haben!“ Drohend schwingt sie den Hexenbesen und Martha und ich sehen ein, daß wir verloren haben.
Ich meine leise: „Wenn sie glücklich damit ist, dann lassen wir sie halt.“
Martha hat Sorge, daß sie sich übernimmt.
Aber ich glaube, Finchen ist noch zäher, als es scheint.
Dana möchte gerne das alte Fabrikgelände sehen, wo ich früher gearbeitet habe und in den Zoo, Kim will in die Boutiquen, wo Marthas und meine Modelle verkauft werden und auch in den Zoo, Thomas und Ricardo möchten zum Brandenburger Tor, was auch bei Dana Zustimmung findet. Emilio ist alles recht.
So sind wir eine ganze Weile unterwegs.
Martha plaudert mit allen, ihr Mundwerk steht nur still, wenn ich sie daran erinnere, daß es wieder Zeit ist, mich zu küssen.
Kim unterhält sich mit Denise über Sascha und seine Model-Karriere.
Thomas und Ricardo sind ins Gespräch vertieft, keine Ahnung, über was.
Und Sascha und ich beobachten das Ganze.
„Martha ist wieder echt süß, so happy über den Besuch.“, meint Sascha.
Wir sehen zu ihr, die natürlich redet und dabei lebhaft gestikuliert.
„Sie ist so ein richtiger Sonnenschein. Strahlt, lacht … kein Wunder, daß euer Besuch so gut drauf ist … Marthas gute Laune steckt an.“
Sascha hat Recht.

Irgendwann haben alle genug vom Sightseeing.
Kim klagt, daß ihr die Füße weh tun.
„Was mußt du auch auf diesen hohen Absätzen hier rumstelzen? Hättest du nicht Turnschuhe oder so anziehen können?“
Kim sieht Sascha an, als würde er erwarten, sie solle als lila Kuh oder etwas ähnlich Absurdes rumlaufen.
Worauf Sascha lachen muß. „Ich wette, du jammerst nur so rum, damit dein Mann dir gleich eine schöne Fußmassage verpaßt.“
„Ich muß nicht jammern, damit er mich verwöhnt. Das macht er gerne. Nicht wahr?“
Kims sieht ihren Mann in einer Weise an, daß der ganz schnell „Natürlich, Prinzessin.“ antwortet.
Sascha zieht Emilio beiseite. „Du stehst nicht ernsthaft unter’m Pantoffel, oder?“, fragt er und grinst.
„Weißt du, mit ein bisschen Diplomatie kann man lästigen Diskussionen entgehen und sich angenehmeren Dingen widmen.“, antwortet Emilio leise.
Sascha grinst und gesellt sich zu Denise.
Ich denke an Martha und freue mich, daß ich mich mit ihr angenehmen Dingen widmen kann, ohne dafür diplomatisch sein zu müssen. Was ich eh nicht hinbekommen würde.
„Sag mal … wie sieht das eigentlich mit euren Heiratsplänen aus? Ich meine, ihr seid jetzt schon ziemlich lange verlobt.“
„Erst nach der Therapie.“
„Ach so, stimmt ja. Sorry, hab ich nicht dran gedacht. Du ziehst das also durch – find ich klasse. Ich meine … das zeigt, wie wichtig dir die Beziehung mit Martha ist, daß du an eure gemeinsame Zukunft denkst. Echt, Respekt, Mann!“
„Danke.“, sage ich nur. Dabei tun mir seine Worte sehr gut. Er ist mehr oder weniger ein Außenstehender und wenn er das so sieht …
„Bist du denn schon … in Therapie?“, fragt er vorsichtig.
„Ich hatte ein erstes Gespräch.“
„Und? … Also, wenn du nicht drüber reden willst …“
„Dann hätte ich die Therapie wohl noch dringender nötig.“
Emilio sieht mich verblüfft an. Dann begreift er. „Ach so, ja, klar … reden, nix mehr in sich reinfressen …“
„Ja. Also dieses erste Gespräch … kann man noch nicht viel sagen. Ich werde wohl als erstes Geduld lernen müssen. Nicht so einfach.“
„Und? Wie ist dein Therapeut denn so?“
„Es ist eine Frau. … Ich denke mal, die Chemie stimmt. Weil, sonst hätte ich sicher nicht so offen mit einer völlig Fremden darüber reden können, was mir Angst macht.“
Emilio nickt verständnisvoll.
„Geht Martha mit?“
„Ja. Und das hat mir sehr geholfen.“
„War eigentlich ‚ne dumme Frage von mir. Hätt‘ ich wissen müssen, daß Martha in so einer Situation nicht von deiner Seite weicht. Aber mal zurück zum Thema Hochzeit – wenn du deine Therapie hinter dir hast … dann heiratet ihr aber wirklich, oder?“
Ich will Martha heiraten, da habe ich nicht den geringsten Zweifel.
„Wir werden ganz bestimmt heiraten. Aber ich denke, für konkrete Pläne ist noch nicht die richtige Zeit. Ich glaube, auch Martha denkt da noch nicht wirklich drüber nach.“
Irgendwie weiß ich, daß wir einfach merken werden, wenn es Zeit ist, unser Eheversprechen einzulösen.
„Na ja, es eilt ja auch nicht wirklich. Ihr bleibt so oder so zusammen. Aber sag mal, wie ist das eigentlich mit deiner Aufenthaltserlaubnis?“
Gut, daß er die erwähnt. Ich glaube, die läuft mal wieder ab und ich muß mich um die Verlängerung kümmern. Hoffentlich geht das glatt, nun, wo ich wieder selbstständig bin, also keinen festen Arbeitsvertrag mehr habe.“
„Die ist nur befristet, weil ich ‚ne Vorstrafe habe.“
„Scheiße. Mensch, da steht euch bei der Heirat derselbe Mist bevor, wie bei Kim und mir damals … von wegen Scheinehe.“
Kim stößt dazu.
„Über was redet ihr?“
„Über Marthas und Juris Heirat. Und daß Juri auch nur ‚ne befristete Aufenthaltserlaubnis hat.“
„Stimmt ja. Aber ihr lebt ja wirklich als Paar zusammen. Nicht so wie bei Dana und Jessica, die so tun mußten. Klar, ist trotzdem lästig, mit den Kontrollen und so. Laßt euch nicht stressen, okay?“
Ich nicke.
„Entschuldigt, wenn ich mich einmische.“, meint Ricardo. „Wie lang ist das her mit deiner Vorstrafe?“
„Siebzehn Jahre.“
„Und wie lautete das Urteil?“
„Körperverletzung.“
„Schwere Körperverletzung?“
„Nein.“
„Dann … würde ich einfach mal beantragen, daß die Aufenthaltserlaubnis in unbefristet umgewandelt wird. … Das hast du nie versucht, hm?“
„Nein. Es hieß immer, keine Chance.“
„Ich glaub, das ist Quatsch. Du bist doch seitdem nie wieder strafrechtlich auffällig geworden, oder?“
„Nein.“
„Na, also. Das ist so lange her … ich würd’s versuchen. Dann wär auch das mit der Scheinehe vom Tisch.“
Wahrscheinlich hat Ricardo Recht. Mehr als meinen Antrag ablehnen können sie ja nicht.

Als wir wieder zurück sind, dämmert es schon.
Finchen hat Suppe gekocht und da es wirklich frisch wird, sobald die Sonne weg ist, tut uns die tatsächlich gut.
Ich setze mich etwas abseits. Carlo kommt und ringelt sich auf meinem Schoß ein.
„Ihr habt einiges gemein, das Katerchen und du.“ Martha steht hinter mir, legt mir die Arme um den Hals und den Kopf auf die Schulter.
„Was denn?“
„Selbstbewußt, freiheitsliebend, macht euer eigenes Ding.“
Hm ja. Das stimmt schon.
Aber der Kater hockt doch nicht auf meinem Schoß, weil wir Seelenverwandte sind?
„Ich freue mich, daß ihr euch gut versteht, daß ihr euch mögt.“
Ich würde zu weit gehen, wollte ich behaupten, ich wäre in das Tier total vernarrt.
Aber er ist eine gute Ergänzung, er paßt zu uns.
Seit ich begriffen habe, daß es kein Zufall ist, daß Martha und ich uns getroffen haben, bin ich generell skeptisch, was Zufälle angeht.
Daß der Kater uns gezielt ausgesucht hat, will ich nicht abstreiten.

Thomas setzt sich zu uns.
„Ihr macht das echt gut hier. Ich wußte ja, daß alles ganz prima läuft, aber jetzt, wo ich es sehe, bin ich sicher, es war die absolut beste Entscheidung. Abgesehen von der natürlich, dir meine Nichte als Partnerin auszusuchen.“ Er zwinkert mir zu.
„Seien wir mal ehrlich, du kannst doch froh sein, aus diesem Irrenhaus LCL weg zu sein. Da hast du nie richtig reingepaßt. Das hier … das ist doch cool. Euer Laden macht was her. Paßt vom Stil her zu euch. Bisschen anders, aber nicht so schickimicki. Und ihr habt tolle Freunde, auf die ihr euch verlassen könnt und die mit anpacken.“
Die haben wir wirklich.
„Und mit Oma Finchen habt ihr echt ‚nen tollen Fang gemacht.“
Wer da wohl wen gefangen hat?
„Wir sehen uns als Familie.“, meint Martha.
„Ja. Sehe ich auch so. Man merkt, daß ihr euch versteht, daß es einfach paßt. Ich wünsch euch, daß das so bleibt.“
„Dankeschön.“ Martha busselt ihren Onkel auf die Wange.
Ich nicke nur.

Sascha sitzt bei Dana und Ricardo. Martha meint, die beiden würden Sascha wahrscheinlich den neuesten Tratsch aus der WG erzählen.
Emilio und Kim haben sich zu Martha und mir gesellt.
Kim fragt nun auch wegen der Hochzeit nach.
„Du designst Martha doch ihr Kleid, oder? Ich mein, wie cool ist das denn, ein Unikat von Juri Adam als Hochzeitskleid? Mit Liebe entworfen … das ist sooo romantisch.“
Martha und ich sehen uns an. Und müssen grinsen.
Wir haben noch kaum an unsere Hochzeit gedacht und schon gar nicht an unsere Garderobe.
„Und du, Juri? Anzug, Schlips? Kann ich mir so gar nicht vorstellen.“ Emilio sieht mich skeptisch an. Und dann Martha. „Kannst du dir deinen Juri im Anzug vorstellen?“
„Ehrlich gesagt … nein. Ich mein … ich will auch nicht, daß er in ‚nem Shirt und seiner Lederjacke vor dem Standesbeamten steht. Aber bevor er sich unwohl fühlt, würd‘ ich das auch akzeptieren. Juri soll Juri bleiben, auch wenn wir heiraten.“
„Aber wie zieht man sich denn als Mann anständig an, ohne einen Anzug zu tragen?“, fragt Emilio.
„Laßt doch Juri auch mal was dazu sagen.“, meint Kim.
Doch fällt mir nichts ein. Okay, ausgebeulte Jeans, Schlabbershirt … das geht wohl wirklich nicht. Aber Anzug und Schlips geht genauso wenig. Eigentlich finde ich ganz gut, wie Emilio sich heute trägt. Schwarze Jeans, weißes Hemd, schwarze Weste.
„Ich, ehm, könnte mir vorstellen, sowas zu tragen.“ Dabei deute ich auf Emilio.
Martha und Kim sehen ihn an. Und dann mich.
„Joah, könnt‘ ich mir vorstellen.“, meint Kim nach einer Weile. „Schlicht und doch edel, elegant. Natürlich ohne Schlips, den Kragen was offen …“
Ich sehe Martha fragend an. Sie lächelt und nickt.
„Wenn du meinst, so würdest du dich wohl fühlen ... ich fänd das ganz schick und definitiv schick genug für ‚ne Hochzeit. Und mal ehrlich … Juri Adam … das muß eben … anders … sein. Wenn ihr versteht …“
„Tun wir.“, lacht Kim.
„Ist doch cool, haben wir dein Kleidungsproblem mal eben so nebenbei gelöst.“, lacht Emilio.
Nicht, daß das meine große Sorge gewesen wäre, aber wenn es soweit ist, müssen wir uns um diese Frage schon mal nicht mehr kümmern.
„Wo wollt ihr eigentlich heiraten? Hier in Berlin? Oder doch in Düsseldorf, wo ihr euch kennen- und liebengelernt habt?“, will Kim wissen.
"Ach, Kim, wir haben noch überhaupt keine Heiratspläne gemacht.“, kichert Martha.
„Versteh ich nicht, das ist doch total aufregend. Und für dich doch erst recht. Ich mein, du hast dir null Chancen bei Juri ausgerechnet und heute bist du mit ihm verlobt. Das hat doch fast schon was von ‚nem Märchen.“
„Heiß ich Aschenputtel oder wie?“ Martha kichert noch mehr.
„Hey, meine Frau steht einfach auf diese ganze Romantik.“, entschuldigt Emilio Kim.
"Nun sagt doch mal … Berlin oder Düsseldorf?“, bohrt Kim weiter.
Martha sieht mich an.
Ich hab so gar keinen Nerv, mich damit zu befassen.
Martha soll sich aussuchen, was ihr lieber ist und so machen wir es dann.
„Es hat beides was. Stimmt schon, in Düsseldorf hat das mit uns angefangen. Aber Berlin, das ist unser Leben, unsere Zukunft. Und ich möchte weder meine alte noch meine neue Familie auf meiner Hochzeit missen. … Ich hab keine Ahnung.“, meint sie schließlich hilflos.
„Laß dir Zeit. Noch wissen wir doch gar nicht, wann wir überhaupt heiraten.“, sage ich.
Kim strahlt so, als könne sie es kaum erwarten. „Ob Berlin oder Düsseldorf, wir sind dabei und es wird megacool.“
Na, wenn sie das sagt …

 Bald schon müssen wir uns nach drinnen begeben, weil es draußen zu kalt wird.
Aber da wir eh auf Grüppchen verteilt plaudern, sitzen wir abwechselnd in Wohnzimmer und Küche. In letzterer stehen Häppchen, die Denise und Martha schnell vorbereitet haben.
Ich sitze da, Martha hat sich an mich gelehnt und ich schließe die Augen. Höre hie und da ein wenig zu, Dana erzählt von zuhause, Kim, was bei LCL passiert.
Mich interessiert das nicht wirklich, ich schalte nach und nach ab.
Aber ich fühle mich dennoch wohl. Die Stimmen wirken beinahe einschläfernd, ich bin entspannt und döse fast weg.
Martha merkt das, sie streichelt sanft meinen Nacken.
„Juri, schläfst du schon?“, lacht Kim.
„Laß ihn doch.“, meint Martha.
„Wird eh langsam Zeit.“ Thomas reckt sich. „Aber das seht ihr sicher anders, hm? Oder traut sich nur keiner, zuzugeben, daß er oder sie eigentlich ins Bett will?“, lacht er.
„Quatsch!“, meinen Kim und Dana gleichzeitig.
„Also, ich hätte nichts dagegen.“, meint Ricardo.
„Wogegen? Ins Bett zu gehen?“, grinst Dana.
„Hm ja, genau.“
„Langweiler. Schnarchnase.“, kichert Kim.
„Ich komm dir gleich da rüber!“, schimpft Ricardo gespielt.
„Also, ich verabschiede mich für heute und geh rüber in die Pension. Wir sehen uns morgen beim Frühstück.“ Thomas steht auf.
Ricardo sieht Dana an. „Also gut.“, seufzt sie und die beiden verabschieden sich nun ebenfalls.
Kim und Emilio bleiben noch; die beiden werden bei uns auf dem Sofa übernachten.
„Wie ist das eigentlich mit eurer Familienplanung?“, fragt Kim Sascha und Denise.
„Boah, Kim, sei doch nicht immer so neugierig!“ Emilio verdreht die Augen.
„Was? Ob wir heiraten wollen? Doch, doch …“, meint Sascha.
„Aaaaber?“, bohrt Kim nach.
„Na ja … als ich nach Deutschland kam, wollt‘ ich mir hier was aufbauen. Hab ‚ne Frau kennengelernt, wo ich dachte, das könnt‘ was für immer sein. Zumindest für länger. Wir bekamen eine Tochter. Und dann … hab ich meinen Job verloren. Und sie war weg. Mit meiner Tochter. Hab sie nie wiedergesehen. Ging mir echt nicht gut. Hab lang gebraucht, bis ich aus dem Tief wieder raus war. Und jetzt …“
„Willst du es nicht nochmal versuchen? Hey, jetzt ist doch alles anders! Du hast ‚nen Job und Juri schmeißt dich sicher nicht einfach mal so raus. Mit Denise kannst du doch noch mal neu anfangen … also eine Familie gründen.“ Kim sieht ihn eindringlich an. „Habt ihr noch gar nicht darüber gesprochen?“
„Doch, schon. Nicht so richtig.“ Sascha betrachtet scheinbar interessiert seine Schuhe.
„Du weißt, ich hätte gern ein Kind mit dir. Aber ich dräng dich nicht. Gib Bescheid, wenn du soweit bist.“ Denise legt Sascha die Arme um den Hals und küßt ihn zärtlich.
Sascha drückt sie fest an sich. Und läßt sie erst nach Minuten wieder los.
Ich glaube, er mußte hart um seine Fassung ringen. Er liebt Denise und ich glaube jetzt, daß er gerne noch mal Vater werden möchte.
Ich frage mich, ob er dabei an seinen eigenen Vater denkt. Und dessen Taten.
Martha sieht mich an und ich merke, daß sie ähnliche Gedanken hat.
Ich denke, trotz oder gerade wegen dieser … speziellen Erfahrungen … würde Sascha ein guter Vater sein.
„Ob er oft an seine Tochter denkt?“, fragt Martha mich ganz leise.
Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht so einfach in ihn hineinversetzen. Aber ich denke, daß er zu gerne wüßte, ob es ihr gut geht.
Nun, wo ich am eigenen Leib erfahren habe, daß man Vergangenes nicht einfach ignorieren, ausblenden kann, bin ich sicher, daß Sascha auch nie vergessen kann, daß er eine Tochter hat.
Als Denise und Sascha aufbrechen, hat auch Kim nichts mehr dagegen, schlafen zu gehen.
„Bis morgen!“ gähnt sie und rollt sich auf dem Sofa ein.
„Willst du in den Klamotten schlafen?“, hören wir Emilio noch, bevor wir rüber in unser Schlafzimmer gehen.