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Samstag, 24. August 2013

Inside - Unser Neuanfang in Berlin, Teil 4


Kapitel 39

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sehe ich als erstes in Marthas liebes Gesicht.
Sie liegt dicht an mich gekuschelt, eine Hand auf meiner Brust.
„Heute, hm?“, flüstere ich ihr zu.
„Ja.“, sagt sie leise und sehr zärtlich.
„Haben wir noch Zeit?“
„Mmhhh. Ist erst halb sieben.“
„Noch was kuscheln? Oder bist du zu hibbelig?“
„Kuscheln. Du bist so schön warm. Am liebsten würd‘ ich dich hier im Bett heiraten.“
„Na, hättest du das mal eher gesagt. Hätt‘ ich die Standesbeamtin hierher bestellt.“, lache ich.
Ich hätte gedacht, daß Martha heute noch unruhiger sein würde als die letzten Tage. Vielleicht kommt das ja noch.
Aber im Moment …
Wir kuscheln noch bis Sieben, dann duschen wir gemeinsam und als wir angezogen sind – noch in normaler Kleidung - sind auch Marthas Eltern auf sowie Sascha und Denise da.
„Steht dir.“, meine ich zu Sascha, der zur Feier des Tages ein weißes Hemd trägt.
„Dachte, kann mich ja mal anständig anziehen.“, grinst er.
Dann frühstücken wir ganz in Ruhe.
Was die Ruhe angeht, ist es danach allerdings bei Martha vorbei.
Denise nimmt sie mit in unser Schlafzimmer. Nach dem Umziehen will sie Martha die Haare zurechtmachen.
„Ich fahr mal eben den Wagen durch die Waschanlage. Sauber soll der schon sein, finde ich.“, meint Sascha.
Ich nicke nur und beneide ihn ein wenig.
Nicht, daß ich nervös wäre. Aber ich hätte auch gern was zu tun.
„Kannst alles für das Sektfrühstück einpacken. Da in die Kisten. Dann brauch ich das nachher nur noch ins Auto packen.“
Das ist doch was.
Und ich glaube, ich bin doch nervös. Nein, nicht nervös. Aufgeregt. Vor Freude, Martha gleich zu heiraten.
Während ich mich beschäftige, räumt Gisela den Frühstückstisch ab und spült. Peter trocknet ab.
Dann kommen Martha und Denise zu uns.
Ich sehe meine Süße an … sie sieht sooo wunderschön aus!
Denise hat ihr die Haare hochgesteckt und den Haarknoten ziert ein Accessoire, das Martha sich wohl passend zum Kleid gemacht hat. Es scheinen bunte Herbstblätter zu sein, raffiniert arrangiert …
Und typisch Martha … an ihren Ohren baumeln winzige Bärchen.
„Da strahlt aber jemand.“, höre ich Gisela und brauche eine ganze Weile, bis ich begreife, daß sie mich meint.
Martha ist anscheinend sehr glücklich über die verliebten Blicke, die ich für sie habe.
„Willst du dich nicht auch umziehen?“, fragt sie dann.
„Doch, natürlich.“ Und das tue ich auch sofort, möchte ich doch nicht, daß Marthas Nerven meinetwegen leiden.
Sascha flüstert mir zu, die Ringe nicht zu vergessen. Das passiere ziemlich häufig, die Braut würde es aber seltenst als guten Gag empfinden.
Hm ja, da könnte er Recht haben.Um kurz nach neun Uhr sind wir alle fertig. Zu früh eigentlich.
Wir entscheiden, daß Sascha schon mal Denise und Marthas Eltern sowie Finchen als auch die Kisten mit dem Sekt zum Standesamt bringt.
Dann wird er Martha und mich holen.
Für Martha ist das Warten die reinste Folter.
Und ich darf sie nur vorsichtig umarmen, um ihre Frisur nicht kaputt zu machen.
„Hübsch, das mit dem Laub.“, schmunzle ich.
„Ja, nicht? Die Blätter sind mit Haarspray konserviert. Bisschen Glitter drauf, vorsichtig zusammengeklebt und fertig.“
„Du siehst wunderschön aus.“
Martha strahlt mich glücklich an.
„Du gibst aber auch einen sehr schmucken, attraktiven Bräutigam ab.“
„Ich kann mich echt so sehen lassen, ja?“
„Oh ja! Du siehst durchaus elegant und gut angezogen aus, auch wenn das nur ‚ne Jeans ist.“
„Na dann …“
„Hast du unsere Ringe?“
„In der Westentasche.“
„Ja … dann kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen. … Wie fühlst du dich eigentlich? Hast du auch so ein komisches Gefühl, als ob das alles irgendwie gar nicht wahr sein kann?“
„Ja, ab und zu schon. Aber … ich freu mich. Ich freu mich wirklich sehr, dich gleich zu heiraten.“
„Ach, Juri!“ Martha wischt sich die Augen. „Bring mich nicht zum Heulen, bitte. Ich hab mich zwar nicht doll geschminkt, aber … oh, weißt du, ob Sascha die Kamera eingesteckt hat?“
„Keine Ahnung. Aber auf Sascha ist Verlaß.“
„Ja, stimmt. Wo bleibt der nur?“
„Die sind doch erst ein paar Minuten weg. Bleib ruhig, mein Schatz.“
„So hast du mich noch nicht oft genannt.“
„Dann wird es jetzt Zeit. … Darf ich dich küssen, oder ruiniere ich dann irgendwas?“
„Na, eigentlich dürftest du erst nach der Trauung. Aber wir sind ja unter uns. Und vielleicht beruhigt mich das ein bisschen.“
Ganz sanft lege ich ihr einen Finger unter das Kinn, lege meine Lippen ebenso sanft auf ihre … und für einige Augenblicke sind wir ganz weit weg …
„Mmmmmhhh, das war schön.“, seufzt Martha mit geschlossenen Augen. „Das nachher nochmal, nur noch viiiieeel länger und noch zärtlicher.“
„Ich werd‘ mir Mühe geben.“, verspreche ich.
Da hupt es draußen.
Sascha öffnet uns mit einer Verbeugung die Wagentür und wir steigen lachend hinten ein.
„Sind schon alle da?“, fragt Martha.
„Ja, alle, Josie, Janine, Gloria, Karin … und Frau Sonnabend.“
Ich hatte meine Therapeutin mit Marthas Einverständnis kurzfristig eingeladen … immerhin hatte ich selbst die Heirat an die Therapie geknüpft, will meinen, ohne Frau Sonnabend stünde ich nicht gleich mit Martha vor der Standesbeamtin.

Zehn Minuten später sind wir da. Es ist grad zwanzig vor zehn.
Martha läßt sich in ihrem schönen Kleid bewundern.
„Sie sieht zauberhaft aus.“, meint Frau Sonnabend zu mir.
Ich nicke nur.
Das tut sie wirklich. Hier jetzt, im Spätsommersonnenlicht kommt erst richtig zur Geltung, wie wunderbar die warmen Braun-, Rot- und Goldtöne des Kleides zu Marthas braunen Augen, ihrem blonden Haar und ihrer sonnengebräunten Haut passen.
Ruckartig werde ich aus meinen verliebten Träumereien gerissen, als Denise Martha und mir eine junge Frau vorstellt.
„Das ist Natalie, eine gute Bekannte. Sie ist Fotografin und zwar eine professionelle. Sie wird heute Fotos machen, von der Trauung und auch von der Feier. Ist Saschas und mein Hochzeitsgeschenk für euch.“
Martha ist sichtlich sprachlos. Fällt Denise einfach um den Hals.
Auch ich freue mich sehr über dieses wunderbare Geschenk, wenn ich das auch nicht so deutlich zeige wie Martha.
Aber schöne Fotos von diesem, unserem ganz besonderen Tag, als Erinnerung …
Sascha lächelt mir zu, ich drücke ihn fest. „Danke.“
„Gern geschehen, mein Freund. Und nun … geh und heirate dieses Prachtstück von einer Frau. So eine bekommst du nie wieder. Aber das weißt du ja längst.“
Oh ja, das weiß ich.
Martha und ich steigen die Treppen zum Eingang hinauf. Alle lächeln uns zu. Josie reicht Martha ein kleines Blumengebinde, wohl der Brautstrauß.
Wir betreten das Trauzimmer. Mit dem ganzen alten, dunklen Holz, den Polsterstühlen und diversen Antiquitäten wirkt es ganz angenehm auf mich. Martha scheint sich auch wohl zu fühlen.
Die Standesbeamtin ist schon da und bittet uns, Platz zu nehmen.
Hinter uns setzen sich Marthas Eltern und unsere Freunde.
Schnell kehrt Ruhe ein und die Standesbeamtin beginnt mit der Zeremonie.
Sie spricht ein wenig über die Bedeutung der Ehe in der heutigen Zeit und entschuldigt sich dann für die nötigen, aber leider unromantischen Formalitäten. Denn wir müssen zum Beispiel nochmal erklären, daß ‚Adam‘ unser gemeinsamer Ehename sein soll. Außerdem muß sie wohl alles, was sie uns fragt und was wir antworten, nochmal laut vorlesen.
Ich höre konzentriert zu, denn ich will nichts falsch machen. Oder was Dummes sagen.
Obwohl das alles sehr trocken und gefühllos klingt, ist mir die Bedeutung die ganze Zeit über bewußt.
Martha wird hier und jetzt gerade meine Ehefrau.
Ein ganz besonderer Moment.
Nüchtern betrachtet nicht mehr als eine Formsache.
Und doch soviel mehr.
Dann kommt die entscheidende Frage an uns beide und Martha antwortet so entschieden und glücklich gleichermaßen mit „Ja!“, daß mein Herz vor Freude einen Hüpfer macht.
Und ich antworte ebenso entschieden und glücklich mit „Ja!“.
Dann dürfen wir die Ringe tauschen.
Martha und ich sehen uns an.
Müßte ich jetzt was sagen, ich könnte nicht.
Sachte stecken wir uns gegenseitig die Ringe an.
Nun erklärt uns die Standesbeamtin offiziell zu Eheleuten.
„Sie dürfen sich jetzt gerne küssen.“
Martha ist meine Frau!, schießt es mir durch den Kopf. Sie ist meine Ehefrau!
Ich habe das Gefühl, gleich zu platzen vor Glück.
Dann erinnere ich mich an Marthas Worte von vorhin … über den Kuß.
Und ich versuche, in diesen einen Kuß alles zu legen, was ich für sie empfinde.
All meine Liebe, meine Dankbarkeit …

Erst die vielstimmigen „Ooohs!“, das Klatschen und kleine Juchzer holen Martha und mich irgendwann in die Wirklichkeit zurück.
Wir sehen uns in die Augen, küssen uns noch einmal zärtlich, dann ziehe ich sie an mich und halte sie fest, mein Gesicht in ihrem Haar vergrabend.
Bis Martha leise meint: „Juri? Ich glaub … man möchte uns gratulieren.“
Als ich Martha – ungern - loslasse, weist die Standesbeamtin uns lächelnd darauf hin, daß wir noch unsere Unterschriften zu leisten haben.
Das fehlte noch, daß Martha und ich jetzt doch nicht offiziell verheiratet wären!
Martha ist aufmerksam und unterschreibt mit ‚Martha Adam‘, wie es sein soll.
Auch Sascha und Denise als unsere Trauzeugen unterschreiben die Urkunde.
Dann ist aber alles Formelle erledigt.
Und Martha und ich sind tatsächlich Mann und Frau.

Während Martha sich von ihren Eltern drücken und küssen läßt, drückt mich Sascha lange an sich.
„Mensch, Juri!“
„Du wirst doch nicht anfangen zu heulen?“
„Doch, Mann! Ich freu mich so für dich und Martha! Nicht, daß ihr diesen amtlichen Wisch gebraucht hättet … aber trotzdem … freu mich riesig. Bleibt so glücklich, wie ihr seid, ja?“
„Versprochen.“
Wie sehr mich die Freudentränen meines besten Freundes anrühren, zeigt mir wieder einmal, wie sehr ich mich verändert habe.
Er drückt mich nochmal fest, dann reicht er mich an Denise weiter, die mich auch lange drückt.
Dann sind Marthas Eltern an der Reihe.
Und Finchen.
Josie und Janine.
Karin.
Und Gloria. „Juri Adam … du, ich kann das immer noch nicht richtig glauben. Aber ich hab dich noch nie so glücklich gesehen. Ich wünsche dir und Martha alles Liebe und Gute für euer gemeinsames Leben!“
Auch sie drückt mich.
Dann haben wir alle Glückwünsche entgegengenommen. Die Standesbeamtin verabschiedet sich von uns.
Josie erinnert Martha daran, den Strauß zu werfen.
„Eigentlich würde ich den lieber behalten.“, flüstert sie mir zu.
„Mach doch. Zwingt dich doch keiner, den durch die Gegend zu schmeißen.“
„Will aber kein Spielverderber sein.“
Martha wirft also den Strauß … und Gloria fängt ihn.

Dann stehen wir draußen in der Sonne.
Sascha hat unter einer Kastanie zwei Stehtische aufgebaut und den Sekt und seine Häppchen darauf drapiert.
Martha strahlt mit der Sonne um die Wette. Leichtfüßig tänzelt sie von einem zum nächsten und läßt alle an ihrem Glück teilhaben.
Ich habe mich in den Schatten geflüchtet. Nicht, daß ich nicht auch glücklich wäre. Ich bin sogar wahnsinnig glücklich. Aber gerade, in diesem Augenblick … wäre ich lieber mit Martha allein.
Martha entdeckt mich schnell, kommt zu mir, schmiegt sich an mich.
„Alles okay?“
„Ja.“, sage ich glücklich. „Mir ist nur für einen Moment der Trubel zuviel. Aber das geht gleich vorbei.“
Martha sieht mir tief in die Augen. „Ich kann das noch gar nicht richtig glauben, daß ich wirklich deine Frau bin …“
„Mmmmhhh, das bist du.“, sage ich sanft und küsse sie zärtlich.
„Du, weißt du, daß Janine alles filmt? Also auch schon die Trauung und alles? Der kleine Camcorder und der Film sind ihr Hochzeitsgeschenk. Ist das nicht toll? Wir bekommen ganz tolle Fotos und sogar einen Film von unserer Hochzeit! Und vielleicht können wir ja auch was von der Feier in Düsseldorf filmen.“
Das ist wirklich ein schönes Geschenk. Und die Fotos werden bestimmt toll, denn wir bemerken die Fotografin gar nicht. Woraus ich schließe, daß sie weiß, was sie tut. Denn ungestellte Fotos sind doch immer die besten.

Dann heißt es – vorläufig – Abschied nehmen von Josie und Gloria, die nach Hause müssen, ihre Sachen holen. Sie werden sich am Bahnhof mit Sascha, Denise und Marthas Eltern treffen.
Auch Janine verabschiedet sich, wünscht uns viel Spaß in Düsseldorf. „Laßt euch so richtig feiern! Ich werde mich anhand des Videos versichern, daß es eine geile Party war. Und wehe, wenn nicht!“
Wir lachen, bedanken uns herzlich für das tolle Geschenk. Noch eine Umarmung, dann ist sie weg.
Sascha fährt Finchen, Peter und Gisela zu uns, Denise bleibt bei Martha und mir – wir räumen unsere Sachen ein und warten auf Saschas Rückkehr.
Dann sind auch wir zuhause und packen, nachdem wir Sascha und Denise, Peter und Gisela nachgewunken haben, die nun auch zum Bahnhof fahren.
Martha schnuffelt ein wenig vor sich hin, tröstet sich aber selbst damit, daß sie alle in ein paar Stunden schon wiedersehen wird.
Finchen macht uns Kaffee, während wir uns umziehen, denn in unserem Hochzeitsstaat wollen wir nicht fliegen. Vor allem Martha ist ihr schönes Kleid dafür zu schade.
Halb ausgezogen legen wir uns ein paar Minuten auf’s Bett.
Ich streiche Martha eine Strähne aus der Stirn. Ich bin sooo glücklich.
„Laß uns lieber wieder aufstehen.“, meint Martha. „Ich penn sonst selig weg.“
„Ja, also … liegst hier halbnackt mit deinem frisch angetrauten Ehemann im Bett und denkst ans Schlafen?“
Ich beuge mich über sie.
Und kitzle sie durch.
Sie quiekt und strampelt. „Juriiiiii! Hör auf!“
„Na, pimpern geht ja jetzt nicht. Aber so krieg ich dich ja auch wieder munter.“, grinse ich sie frech an.
„Ein bisschen mehr Respekt gegenüber deiner Ehefrau, ja? … Ich liebe dich!“ Ganz schnell ist ihr Tonfall unheimlich sanft und zärtlich geworden.
„Ich liebe dich auch.“, sage ich ebenso sanft, bevor wir in einem langen, zärtlichen Kuß versinken.
Dann jedoch … wird es ernst. Anziehen, Rest einpacken.
Schnell Finchens Kaffee trinken.
„Ach, Finchen, wie gern würd‘ ich dich mitnehmen. Unsere Hochzeitsfeier und du nicht dabei …“, meint Martha seufzend.
„Ist schon okay, mein Kind. Mir ist’s lieber so. Feiert ihr mit mir eben nochmal, wenn ihr wieder da seid.“
„Das machen wir!“
Wir drücken unseren guten Hausgeist herzlich, bedanken uns dafür, daß sie mal wieder hier nach dem Rechten sieht und sich um Carlo kümmert.
Dann steigen wir ins Taxi und sind kurz darauf am Flughafen.
Nach dem Einchecken wird Martha wieder ruhiger.
Wir setzen uns und sie lehnt sich an mich.
Dreht nachdenklich den Ehering an ihrem Finger.
Auch ich betrachte meinen.
Verheiratet.
Martha und ich, Juri Adam, verheiratet.
Spontan denke ich an unsere erste Begegnung.
Was ist seitdem nicht alles passiert!
„Weißt du noch …?“, fragt Martha leise.
Und ich spüre, auch sie denkt an damals.
„Ja, nun hast du dieses vollgekleckerte Häufchen Elend von damals geheiratet.“
„Im Kleckern bist du immer noch gut. Aber von Elend keine Spur mehr.“
„Weil du mich so glücklich machst.“
Ich sehe Martha an … an ihren Ohren baumeln die Bärchen … und drücke ihr einen Kuß auf die Stirn.
Sie legt ihren Kopf an meine Schulter und seufzt zufrieden.
So sitzen wir da - einfach glücklich - bis unser Flug aufgerufen wird.

Kapitel 40


Eine knappe Stunde später landen wir in Düsseldorf.
Nehmen uns auch hier ein Taxi.
„Du, wir müssen erst zu Dana in die WG. Ich krieg Ärger mit meiner Cousine, wenn wir nicht sooofort da auftauchen.“
„Okay, okay.“, lache ich.
Und so stehen wir kurz darauf vor der WG.
Die Tür geht auf und … vor Freude quietschend fallen sich die beiden Mädels um den Hals, drücken sich, busseln sich, wollen sich anscheinend gar nicht mehr loslassen.
Hinter den beiden taucht Ricardo auf.
Lachend quetscht er sich an ihnen vorbei.
„Herzlichen Glückwunsch und alles, alles Gute!“
„Danke!“
„Komm rein. Magst du was trinken?“
„Ein Schluck Wasser wär nicht verkehrt.“
„Kannst auch ein Bier haben.“
„Noch besser.“
Ricardo köpft zwei Flaschen und stellt sie auf den Tisch.
Wir haben uns gerade gesetzt und Ricardo mich gefragt, wie ich mich so als Ehemann fühle, als wir unterbrochen werden:
„Ja, Mooooment! Bevor ihr euch hier häuslich einrichtet, will ich erstmal dem frischgebackenen Bräutigam gratulieren!“
Dana strahlt mich an. „Mensch, Juri!!! Meinen Glückwunsch zu deiner Traumfrau! Ich wünsch auch dir alles, alles Gute für eure gemeinsame Zukunft! Komm, laß dich drücken!“
Das lasse ich gerne geschehen.
„Was ist denn hier los? … Ach nee, die frisch Vermählten!“
Ach nee, der Handwerker, mit dem ich das rhetorische Talent gemein habe.
Andi und seine Freundin Bella gratulieren Martha und mir auch sehr herzlich.
„Aber so … habt ihr nicht geheiratet, oder?“ Andi blickt an uns herab.
„Nee. Aber die Sachen waren uns zu schade, um uns damit in den Flieger zu quetschen. Wir ziehen uns gleich im No Limits wieder um.“, erklärt Martha munter.
„Das könnt ihr auch hier, wenn ihr wollt. Ist vielleicht angenehmer, als sich in der Umkleide im Keller vom No Limits umzuziehen.“, bietet Bella uns an.
„Oh, das ist lieb, danke.“
„Komm, wir gehen in mein Zimmer.“ Dana zieht Martha mit sich.
Ich trinke in Ruhe mein Bier.
„Ja, schade, daß wir nicht bei eurer Trauung dabei sein konnten. Besonders Dana bedauert das sehr.“, meint Ricardo zu mir.
„Eine unserer beiden Näherinnen – und eine gute Freundin dazu – hat alles gefilmt. Und uns Kamera und Film geschenkt.“
„Das ist ja toll. Dann können wir noch nachträglich dabei sein.“
„Cool.“, meint Andi. „Das ist doch mal ein klasse Geschenk. Könnt ihr später euren Kindern zeigen, wie ihr geheiratet habt.“
„Ich wollte doch mal schauen … und siehe da, sie sind schon hier.“, tönt es von der Tür her.
Ich erkenne Olli.
Der kommt eilends auf mich zu, verbeugt sich vor mir und sagt: „Werter Herr Adam – meine besten Wünsche zur Vermählung.“ Dann lacht er, drückt mich, der ich inzwischen aufgestanden bin. „Alles Liebe und Gute; ich freu mich für euch!“
Ich hab mit Olli nie viel zu tun gehabt. Ich weiß nicht mal, was für eine Position er im No Limits bekleidet. Tristan gehört der Laden, aber Olli ist wohl mehr als ‚ne Arbeitskraft. Und ob er noch für LCL modelt, weiß ich auch nicht. Aber ich fand ihn immer ganz sympathisch und wir kamen gut miteinander klar, wenn er meine Sachen präsentiert hat.
„Danke!“, sage ich lächelnd.
„Und wo ist die Braut?“ Olli blickt sich erwartungsvoll um.
„Die zieht sich um.“, erklärt Andi.
„Das könnte ich wohl auch mal so langsam tun.“ Auch ich sehe mich um. „Wo, äh, kann ich mich denn eben umziehen?“
„Warum machste das nicht hier? So’n Kerl wie du hat doch wohl keine Angst, daß man ihm was wegkuckt, oder?“ Andi grinst mich an.
Ja, warum eigentlich nicht? Geht ja schnell.
Ich hab eh nur mein Shirt gegen das Hemd auszutauschen, die schwarze Jeans habe ich anbehalten.
„Du, äh, trainierst viel, hm?“
„Boxen.“
„Ah ja.“
„Hättest ‚nem Modedesigner nicht solche Muckis zugetraut, was?“, lacht Olli.
„Na ja …“, grinst Andi. „Braucht er doch für seine Arbeit nicht.“
„Brauchen vielleicht nicht, aber wollen wohl.“ Olli lacht immer noch. „Und Martha gefällt’s bestimmt.“
Nun muß ich auch grinsen. „Tut es.“
„Apropos Martha … wo bleibt deine Holde denn? Ich platze gleich vor Neugier.“
„Hier kommt die Traumfrau!“, höre ich Dana. Und da schiebt sie Martha vor sich her ins Zimmer.
Ich weiß ja schon, wie schön Martha in ihrem Kleid aussieht, sehe sie aber bestimmt wieder sehr verliebt an.
Von den anderen höre ich nur „Wow!“ und von Andis Freundin ein „Wahnsinn!“.
„Ist sie nicht wunderschön?“, fragt Dana strahlend.
Alle nicken.
Martha ist erkennbar verlegen, freut sich aber sehr.
Olli macht auch vor ihr eine Verbeugung, gratuliert ihr ganz herzlich und drückt sie dann mehrfach.
„Ja, wollen wir dann?“, fragt er Martha und mich. „Tristan und ich haben soweit alles vorbereitet, aber er würde gerne noch die Musikauswahl mit euch besprechen und ich hätte da auch noch ein paar Fragen wegen individueller Details.“
Ich sehe Martha fragend an.
„Also von mir aus können wir.“, meint sie munter.
„Hallo? Sind sie etwa schon …?“ Wieder tönt eine Stimme von der Tür her.
Jessica.
Meine Begeisterung hält sich in Grenzen.
Aber Martha strahlt. Läßt sich beglückwünschen und drücken und busseln. Und freut sich riesig, ihr Patenkind wiederzusehen.
Dann macht Jessica auch mir ihre Aufwartung.
„Juri … alles Liebe und Gute für eure gemeinsame Zukunft. Du hast da ‚ne unheimlich liebe, treue Frau, die dich bestimmt sehr glücklich machen wird. Und … sie sieht toll aus! Du hast das Kleid gemacht, stimmt’s?“
Ich bin erstaunt. Sowas hätte ich Jessica gar nicht zugetraut. Vielleicht ist sie doch mehr als hohle Blondine und Lästermaul.
„Danke. … Und ja, das Kleid ist von mir.“
„Das fehlte ja wohl auch noch … heiratet ‚nen Modedesigner und muß sich das Kleid in ‚ner Boutique kaufen.“ Andi hat’s erfaßt – das wär wirklich gar nicht gegangen.
„Ja, geht’s los?“, ermahnt Olli uns lachend.
„Bis gleich, Süße!“ Dana knutscht Martha nochmal ab.
„Ihr macht euch jetzt alle fein und seid pünktlich um siebzehn Uhr im No Limits. Klar?“
„Klar, Chef.“ Andi grinst Olli zu.


Ich werfe mir die Weste über, greife nach unserem Gepäck und dann lassen Martha und ich uns von Olli ins No Limits fahren.
„Von außen hat es sich schon mal nicht verändert.“, meint Martha, als wir dort ankommen.
„Von innen eigentlich auch nicht. Wenn man mal davon absieht … daß wir es für euch … ein bisschen geschmückt haben.“ Olli hält uns lachend die Wagentür auf.
Dann schließt er auf und läßt uns eintreten.
„Waaaahnsinn!“, haucht Martha.
Mir fallen als erstes die roten und goldenen Kerzen auf, die den ganzen Raum schmücken. Auf den zweiten Blick erkenne ich, die sind nicht echt, sondern wohl mit Batterien oder so. Sehen aber hübsch aus.
Von der Decke weht ein Spruchband herab: „Martha & Juri“, daneben das Datum von heute und ein Herz, das von einer Nadel mit Faden statt von einem Pfeil durchbohrt wird.
Martha scheint es auch gerade entdeckt zu haben, denn sie kichert.
Ich finde das auch ganz originell.
Dann gibt es noch eine Menge Blumen.
Zu weiteren Betrachtungen kommen wir erstmal nicht, denn der Hausherr erscheint.
„Hey, da seid ihr ja!“
Tristan betrachtet uns ausgiebig, dann meint er grinsend: „Ich wünsch euch … na, alles, was ihr selbst euch wünscht!“
Martha bekommt ein Küßchen auf die Wange, was sie leicht erröten läßt und ich einen festen Handschlag und einen ebensolchen Klaps auf die Schulter.
„Und? Wie war die Trauung? Ergreifend hoffentlich.“
Martha kichert wieder. „Eine Freundin hat alles gefilmt.“, meint sie.
„Aber ihr habt den Film nicht mit?“
„Doch, Film und Kamera.“
„Na, hallo, da geben wir doch nachher mal eine Exclusiv-Vorstellung. Wozu haben wir eine große Leinwand?“
Martha und ich sehen uns an.
„Natürlich nur, wenn ihr einverstanden seid. Aber so wie deine Frau strahlt, scheint zumindest sie nichts dagegen zu haben.“
Martha schüttelt – in der Tat strahlend – den Kopf.
Und ich nicke zustimmend.
„Tja, eigentlich ist alles soweit vorbereitet. Charlie Schneider – die kennt ihr doch? – kommt gleich mit dem Buffet. Getränke sind reichlich da, auch euer Sljivovic. Ich würde sagen, deine Angetraute sieht mal zusammen mit Olli nach, ob alles euren Vorstellungen entspricht und du wirfst mit mir einen Blick auf die Playlist, okay?“
Wir nicken. Martha macht also mit Olli einen Rundgang und Tristan zieht mich hinter die Theke.
„Kaffee?“
„Gern.“
Martha kommt noch einmal zu mir. „Du, Juri … diese Musik aus der Balkan-Disco … zu der wir getanzt haben …“
„Sollst du haben, mein Schatz.“
Martha strahlt und wirft mir einen Kuß zu.
Ich freue mich, daß Martha sich gerade heute an diesen Abend in der Balkan-Disco erinnert.
Ich habe da nämlich noch eine Überraschung für sie.
Tristans Musikauswahl ist okay. Keine Schnulzen, das wird Martha recht sein.
„Und? Wie fühlst du dich so, nachdem man dich zu lebenslänglich verurteilt hat?“
„Wir haben nur standesamtlich geheiratet, da gibt’s das mit dem ‚bis daß der Tod euch scheidet‘ nicht.“
„Gute Antwort.“, lacht Tristan.
„Aber abgesehen davon – es fühlt sich gut an. Sehr gut sogar.“
„Das freut mich. Cooles Outfit übrigens.“, meint Tristan.
„Danke.“
„Ich frag mich, von wem du das abgekuckt hast.“
„Von Emilio.“
„Ach, echt? Ich dachte, ich … egal. Aber hör mal, dein Schuhwerk scheint mir aber wenig tanztauglich zu sein.“
„Tanztauglich?“
„Na, also bitte! Du wirst ja wohl mit deiner Braut ‚nen Walzer tanzen. Hab extra einen in die Playlist gepackt.“
Was soll ich?
„Ich glaub nicht, daß Martha auf sowas Wert legt.“
„Das vielleicht nicht. Aber es würde sie beeindrucken. Und freuen.“
Ich sehe ihn skeptisch an.
„Glaub mir.“
Ich habe das dumme Gefühl, mich in eine noch dümmere Situation gebracht zu haben.
„Ich, äh, kann nicht tanzen. Also sowas nicht.“
„Ich bring’s dir bei. Schnellkurs Wiener Walzer.“
Das ist nicht sein Ernst! Ich merke, wie ich unter meinem Hemdkragen zu schwitzen beginne.
„Komm! Bis all eure Gäste da sind, hast du’s drauf.“
Ich fürchte, ich komme aus der Nummer nicht mehr raus.
Tristan schiebt mich rüber zu Martha, die sich mit Olli unterhält.
„Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich den Herrn Gatten für eine Weile entführe?“
„Ihr … habt nicht vor, euch heimlich zu besaufen, oder?“
„Keine Sorge, du bekommst ihn unversehrt wieder. Ob man das von mir auch behaupten kann … na, sehen wir mal.“
Tristan schiebt mich bis ins Lager vor sich her.
Ich kann nicht behaupten, daß ich vor Begeisterung kaum an mich halten kann.
„Also, mein Lieber. Ich zeig dir jetzt erstmal die Schritte. Ist eigentlich ganz einfach.“
„Das sagst du so.“, brumme ich.
Tristan ist wohl eher der Tänzer-Typ, schlank und elegant und … ja, leichtfüßig. Ich bezweifle stark, daß ich das hinkriege.
Tristan macht mir also die Schritte ein paar Mal vor und dann soll ich sie nachmachen.
Ich schätze, es ist leichter, einem Pinguin das Tanzen beizubringen als mir.
Aber Tristan hat viel Geduld. „Sieht doch schon gar nicht so schlecht aus.“
Seine Mundwinkel verraten ihn aber.
„Bist du sicher, daß Martha mich nicht einfach auslacht?“
„Das kann schon sein. Aber sie wird’s süß finden, daß du dich bemühst. Und dich sicher für die Qual sehr zärtlich entschädigen. Ich denke, da gibt es Schlimmeres.“
Da hat er auch wieder Recht.
Nach einer Weile meint er: „So, ich glaube, die Grundschritte sitzen so einigermaßen. Dann üben wir jetzt zusammen. Erstmal übernehme ich deinen Part und zeige dir, wie man führt. Dann andersrum.“
„Dann bist du die Frau?“
„Wenn du zudringlich wirst, petz ich‘s deiner Angetrauten.“
Tristans Humor ist nach meinem Geschmack.
„Du, äh, hast ‚ne gute Krankenversicherung?“
„Ja. Aber wenn du mir nochmal so auf die Zehen trampelst, übst du barfuß, klar?“
So tanzen wir also, Tristan und ich. Er lacht, ich fluche.
Einmal höre ich Martha vor der Tür. „Was zum Geier machen die bloß da drin?“
„Klingt nach mittelalterlicher Folter.“, kichert Olli.
Ich weiß nicht, wie lange Tristan mich quält, bis er zufrieden ist.
Ich bin jedenfalls ziemlich fertig.
„Okay, in Grund und Boden blamierst du dich sicher nicht. Und du wirst sehen, deine Süße wird sich freuen.“
Sie wird vor allem sehr überrascht sein.
Martha sieht mich fragend an, als sie sieht, wie ich ein Glas Wasser mit einem Schluck austrinke.
„Frag nicht.“, sage ich nur.
„Okayyyyy. Aber alles in Ordnung mit dir?“
„Ja … ja.“


Ich habe mich gerade so einigermaßen erholt, als Marthas Geschäftspartnerinnen, Gräfin Elisabeth und deren Freundin Charlie Schneider erscheinen.
„Sind wir die ersten?“, fragt die Gräfin.
„Sieht so aus, Elisabeth.“, grinst Tristan.
„Und wo ist das glückliche Paar?“, fragt Frau Schneider.
Martha sieht mich an und ihr ist klar, daß ich zwar einerseits glücklich und stolz bin, nun mit ihr verheiratet zu sein, es aber so gar nicht mein Ding ist, wie eine Trophäe präsentiert zu werden. Und diese beiden Damen sind mir relativ fremd.
Martha nimmt meine Hand, drückt sie sanft und leise seufzend lasse ich mich von ihr zu den Damen hinüberführen.
„Ah, was für ein hübsches Paar!“ Ich habe den Eindruck, die Gräfin meint das wirklich ernst, auch wenn es etwas steif klingt.
„Mädchen, du bist bildschön!“ Elisabeths Freundin ist anscheinend lockerer drauf, damit komme ich besser klar. „Und dein Mann sieht lässig-elegant aus. … Steht Ihnen gut.“ Damit nickt sie mir lächelnd zu.
„Juri. Einfach Juri.“
„Gut. Dann bin ich einfach Charlie. … Aber nun: Herzlichen Glückwunsch und alles Liebe und Gute für euren gemeinsamen Lebensweg – von uns beiden!“
Die beiden Frauen küssen meine strahlende Martha auf die Wangen.
Charlie bedenkt auch mich mit Küßchen, während die Gräfin zögert.
Dann jedoch meint sie: „Ich bin Elisabeth.“
Ich verneige mich leicht, deute einen Handkuß an … und damit scheint das Eis gebrochen zu sein. Elisabeth lacht herzlich. „Na, das hätte ich jetzt nicht erwartet.“
„Bin ich bisher so unzivilisiert rübergekommen?“ Ich meine, ich hätte mich schon mal vor ihr verbeugt.
„Nein, das nicht. Aber Sie …“
„Du.“
„… du bist halt etwas … anders. Nicht negativ gemeint. Aber unkonventionell.“
Ich verstehe durchaus, was sie meint, sage aber nichts weiter, lächle nur.
Dann meint Charlie: „Tja, wir beiden haben lange überlegt, was wir euch zur Hochzeit schenken könnten. Also das Buffet, das meine beiden Mitarbeiter da gerade aufbauen, das ist Teil unseres Geschenks. Aber wir wollten dann doch noch was haben, was … nicht so schnell verdaut ist.“
Charlie und Elisabeth lachen.
„Aber … das Buffet … das ist echt schon … also mehr als genug.“, meint Martha verlegen.
„Mein liebes Kind, nun verdirb uns nicht die Freude.“, mahnt Charlie. „Also … wir haben uns gedacht, so ein bisschen Werbung schadet ja nie … und deshalb haben wir euch einen Fotobericht in der ‚Fashion Week‘ vermittelt. Die werden auf acht Seiten ausführlich über euren Laden, eure Arbeit und was dazu gehört, berichten. Wir wissen, ihr seid keine Unbekannten mehr, aber so ein Bericht sichert euch vielleicht doch neue Kunden.“
„Du solltest vielleicht gleich miteingestehen, daß wir davon auch profitieren.“, wirft Elisabeth leise ein und stupst ihre Freundin in die Seite.
„Jaja, schon gut. Du hast ja Recht. … Aber wir hoffen, ihr freut euch trotzdem.“
Die beiden sehen uns fragend an.
Martha ist ein wenig sprachlos. „Also … das ist … das ist … wunderbar! Einfach fantastisch! Vielen, vielen Dank!“
Wie Martha so ist, fällt sie den beiden um den Hals. Zumindest Elisabeth ist von Marthas Temperament überrumpelt, drückt sie aber lächelnd an sich.
„Ja, den Termin macht ihr selber aus, nicht? Ich geb dir nachher die Telefonnummer. Und nun …“, Charlie reibt sich die Hände, „wollen wir euch feiern!“
In diesem Augenblick kommen Dana und Jessica mit Maxi, sowie Ricardo, Andi und seine Freundin herein.
„Wow! Das ist aber schön!“ Dana sieht sich begeistert um. „Da haben Tristan und Olli sich ja richtig was einfallen lassen. Gefällt’s euch auch?“, fragt sie uns.
„Es ist toll.“
Da ertönt Lärm von der Eingangstür her.
„MAAAARTHA!!!“ Kim stürzt auf ihre Cousine zu, hebt sie kurz hoch, meint lachend „Okay, das muß reichen.“ und knutscht Martha auf beide Wangen.
Die beiden halten sich an den Händen, strahlen sich an.
„Ich fass es nicht – ihr zwei seid jetzt echt verheiratet, ja?“
Martha nickt nur.
„Wahnsinn! Aber ich freu mich riesig für euch! … Juri, Mensch, komm her!“ Stürmisch fällt sie mir um den Hals und küßt auch mich auf beide Wangen.
„Glückwunsch! Und alles, alles Liebe!“
Dann weicht sie ein Stück zurück. „Hmm … kein typisches Brautpaar, aber ein sehr eindrucksvolles. Dein Kleid, Juri … der Hammer! Und echt total für Martha gemacht.“
„Du siehst traumhaft aus, Martha.“, versucht Emilio zu Wort zu kommen.
„Pack den Waschlappen wieder ein, Emilio, sonst trittst du noch drauf. … Aber Recht hast du. Und Juri … sag mal, Martha, macht der dich eigentlich nicht total scharf in diesem Look? Also, wenn ich du wäre …“ Kim leckt sich lasziv über die Lippen.
Und wir lachen alle.
„Darf ich denn jetzt bitte auch mal gratulieren?“, fragt Emilio und drückt Martha an sich, ohne die Antwort abzuwarten.
Inzwischen haben sich die anderen Wolfs um uns versammelt und während Martha und Emilio sich anstrahlen, drückt mir Thomas herzhaft die Hand.
„Na, Juri? So wie du aussiehst, ist das zwar der schönste, aber auch der anstrengendste Tag in deinem Leben, was?“
„Das ist schon okay. Und ich glaube, es … würde mir hinterher leid tun, nicht so gefeiert zu haben. Und Martha freut sich so.“
„Das ist kaum zu übersehen. Mit ihrem Strahlen könnte sie den ganzen Raum erleuchten.“, lacht Thomas.
„So und ich jetzt auch mal, Papa.“, schiebt Marlene ihren Vater resolut zur Seite.
Thomas löst Rebecca bei Martha ab, die wiederum wartet, daß Marlene mich losläßt.
„Juri Adam … daß du mal die kleine Näherin … deine spätere Assistentin … heiraten würdest … hätt’st du dir auch nie träumen lassen, was? Aber was paßt, das paßt. Und ihr seht so aus, als würde das ganz hervorragend passen. Alles Liebe und Gute; ich wünsch euch, daß ihr auch künftig beruflich und privat ein Traumpaar bleibt.“
„Danke, das ist lieb von dir.“
„Und Marthas Kleid … traumhaft schön. Eigentlich ist das Kleid selbst eine richtige Liebeserklärung an deine Frau.“
Darüber freue ich mich sehr.
Auch Rebecca drückt mich herzlich.
Und ich fange an, die Glückwünsche zu genießen, weil ich merke, da ist nichts geheuchelt. Diese Leute freuen sich wirklich für Martha und mich.
Martha, die ja eigentlich auch nicht so gerne im Mittelpunkt steht, genießt die Glückwünsche auch sichtlich.
Es ist heute nichts Tollpatschiges an ihr, im Gegenteil. Anmutig scheint sie mehr zu schweben als zu gehen.
Und ich glaube, sie dreht sich absichtlich öfter schwungvoll herum, weil ihr Kleid dann so schön schwingt.
„Du bist sowas von verknallt, das sag ich dir.“ Es ist Emilio, der mich aus meinen Gedanken reißt. „Aber ich kann’s verstehen. Martha sieht einfach wunderschön aus.“
Ich fühle gerade soviel Zärtlichkeit für sie, daß ich hinübergehen und sie küssen möchte – als erneut Lärm von der Eingangstür her ertönt.
„SASCHA! DENISE!“ Martha saust unseren Freunden entgegen und herzt sie, als ob sie sie tagelang nicht gesehen hätte. Aber ich verstehe sie. So lieb Kim und die anderen sind … ohne unsere Freunde wäre diese Feier nicht dasselbe.


Kapitel 41


Sascha kommt auch gleich auf mich zu.
„Hey, Alter, alles klar?“
An seinem verständnisvollen Blick merke ich gleich, daß er weiß, wie ich mich fühle.
„Gut, daß du da bist.“
„So schlimm?“
„Nein. … Nein, echt nicht. Aber trotzdem: Gut, daß du da bist.“
„Hey, unsere Süße dreht richtig auf, was?“, lacht Sascha und deutet auf Martha, die in der Tat jetzt ziemlich aufgekratzt wirkt.
Aber dabei auch wunderschön. Fast möchte ich meinen, sie verbreitet ein Leuchten um sich herum. Das kann aber am Kleid liegen, denn der Stoff schimmert leicht, je nachdem, wie das Licht darauf fällt.

Mit Sascha und Denise sind natürlich auch Peter und Gisela sowie Josie und Gloria eingetroffen.
Martha stellt sie stolz unseren Düsseldorfer Freunden vor.
Das heißt, die Wolfs kennen sich natürlich untereinander und nebenbei bekomme ich mit, wie sehr Thomas sich freut, seinen Bruder wiederzusehen. Die beiden hocken sich auch gleich zusammen.
Gisela steht bei Kim, Dana und Marlene.
Gloria hat sich gleich unter’s Volk gemischt, sie fühlt sich hier nicht fremd. Sie kennt Olli und Jessica, sowie Tristan und Rebecca.
Josie dagegen gesellt sich zu Sascha, Denise und mir.
„Guck dir Martha an … so süß!“, meint sie.
Wir verstehen ganz genau.
Da kommt Tristan zu uns herüber.
„Sag mal, seid ihr nun vollzählig? Sind alle da?“
„Ich wüßte nicht, wer noch fehlen könnte.“, sage ich.
„Na gut.“ Damit verschwindet er wieder Richtung Tresen.
Einen Augenblick später bringt lautes Räuspern aus den Lautsprechern alle dazu, zu verstummen.
„Verehrte Anwesende! Wir haben uns hier zusammengefunden, um das Brautpaar zu feiern. Martha und Juri … ich halte ja beide für ziemlich durchgeknallt.“ Verschiedene Rufe und leises Lachen flattern durch den Raum. „Martha, die kleine Strickliesel, deren Mundwerk so schnell rattern kann wie ihre Nähmaschine und die allen gezeigt hat, was sie drauf hat … und das ist ‚ne Menge … und Juri, dieser bekloppte Designer, der verglichen mit seiner Angetrauten ein Schweigemönch ist … nun, diese beiden schrägen Typen haben also zusammengefunden … und es scheint, als ob diese Kombi ein Erfolgsrezept ist. Denn so glücklich zu sein, wie die beiden, das muß man erstmal hinkriegen. Also – auf Martha und Juri!!!“
Ein vielstimmiges „Auf Martha und Juri!“ erklingt und alle erheben ihre Gläser.
Martha schmiegt sich noch enger an mich, strahlt mich an und ich, ich nehme ihr das Glas aus der Hand, stelle es beiseite … und küsse sie lang und innig.
Nur gedämpft nehme ich wahr, daß um uns herum anerkennend gepfiffen und geklatscht wird.
„Na, das nenne ich mal einen Kuß.“, hören wir Tristan aus dem Lautsprecher. „Kriegt ihr noch Luft, ihr zwei? Aber wir haben ja zur Not einen Arzt hier. … Ja, vielen Dank, daß ihr treulosen Tomaten, die ihr euch einfach nach Berlin verfatzt habt, uns doch die Möglichkeit gebt, mit euch zu feiern. Aber Strafe muß sein … also zumindest für den werten Ehegatten wird es eine …“ Tristan prustet leicht, man merkt, er kann sich das Lachen kaum verkneifen, „und bevor wir gleich das Buffet eröffnen und einfach Spaß haben … wird das Brautpaar die Feier mit einem Walzer einleiten … ganz so, wie sich das gehört.“
Oh je!
Ich seufze tief … und beuge mich meinem Schicksal.
Möglichst würdevoll verbeuge ich mich vor Martha, biete ihr meine Hand an. „Darf ich bitten?“
Martha ist trotz Tristans Ankündigung völlig überrumpelt. Sie braucht eine Weile, um zu reagieren und meine Hand zu ergreifen.
Die meisten der Anwesenden – also die zumindest, die mich kennen – sind genauso erstaunt.
Ich führe Martha in die Mitte des Raumes … und dann tanzen wir Walzer.
Ich komme mir komisch vor. Das bin nicht ich.
Und Martha kann sich inzwischen das Grinsen nicht verkneifen.
„Jetzt weiß ich, was ihr vorhin im Lager gemacht habt.“, kichert sie mir leise ins Ohr. „Aber wie kamt ihr denn auf diese Schnapsidee?“
„Tristan meinte, ich könnte dich damit beeindrucken. Und du würdest es süß von mir finden.“
„Ich wußte nicht, daß du masochistisch veranlagt bist.“
Wie Martha mit der Situation umgeht, gefällt mir. Das Tanzen selbst macht mir nicht wirklich Spaß, aber das Tuscheln mit Martha schon.
Dann habe ich es überstanden. Und ich habe Martha weder auf die Füße getreten noch haben wir uns langgelegt, wie ich insgeheim befürchtet hatte.
„Na ja … also für den Wiener Opernball wird’s nicht reichen.“, hören wir wieder Tristan. „Aber immerhin! Und nun, meine Lieben, im Namen des Brautpaares – langt zu, laßt es auch gutgehen. Und … wer das Brautpaar erleben möchte, wie es sich das Ja-Wort gibt – Lahnstein Entertainment proudly presents: Martha und Juri – der Film!“
Aahs und Oohs dringen von überall an unsere Ohren und auf der Leinwand rechts vom Eingang sehen wir nun tatsächlich das Standesamt Neukölln.
Janine hat alles gefilmt, schon, wie wir hineingehen, dann die ganze Zeremonie.
Als der Film Martha und mich zeigt, wie wir uns nach dem Ja-Wort küssen, wird im Raum wieder gepfiffen und noch mehr Aahs und Oohs erklingen.
Ich halte Martha an mich gedrückt, sie sieht zu mir auf, so glücklich, so voller Liebe … ich küsse sie zärtlich, sie seufzt leise.
Dann meint sie: „Ich möchte mit den anderen feiern und gleichzeitig mit dir allein sein. Verrückt, nicht?“
Komischerweise geht es mir gerade ganz genauso.
Dana kommt zu uns.
„Oh, Martha, das war so schööön! Vor allem der Kuß! Ich hab richtig heulen müssen.“ Dana zieht ein Taschentuch hervor und tupft sich die Augen.
„Das war doch echt eine geniale Idee, die Trauung zu filmen!“ Kim und Emilio stehen auf einmal neben uns. „Und Juri … du hast zwar nix gesagt, aber … scheiße, ich hätt’ auch fast geheult, als die Kamera dein Gesicht zeigte und man so deutlich sehen konnte, daß dir echt nichts wichtiger ist als Martha zu heiraten … und der Kuß war der Wahnsinn!“
Kim mit ihrer Art, einfach rauszuhauen, was und wie sie denkt und fühlt, ist echt okay.
„Na, da hatte wohl jemand die gleiche Idee wie ich, was?“ Thomas steht auf einmal neben uns.
„Ich hoffe, es ist okay, daß ihr auch noch einen Film von der Feier hier bekommt.“ Thomas hält uns eine Kamera vor die Nase.
„Oh! Ja … das wäre wunderbar!“
„Nicht okay?“
„Doch! Ich bin nur … etwas überrumpelt. Weil … Janine, eine unserer Näherinnen … sie hat den Film von der Trauung gemacht. Und uns die Kamera geschenkt. Ich dachte, wir könnten hier filmen, aber irgendwie … kommen wir gar nicht dazu.“
„Na, hört mal … ihr seid schließlich das Brautpaar. Klar, daß ihr anderes zu tun habt, als mit der Kamera rumzulaufen. Das überlaßt mal schön mir. … Sonst muß ich mir wieder das Hirn zermartern, was ich euch zur Hochzeit schenke.“ Den letzten Satz hat er nur noch geflüstert.
„Onkelchen, das ist schon okay. Es geht nicht um große Geschenke, sondern um die Geste und die ist einfach total lieb.“ Sie küßt Thomas auf die Wange und der strahlt wieder.
„Kommt ihr mal?“, fordert Dana uns auf.
Sie nimmt uns beide an der Hand und zieht uns bis hinter den Pool, wo Jessica und Ricardo anscheinend auf uns warten.
„Wir … haben echt lange überlegt, was wir euch schenken könnten. Und nach gefühlten Stunden hatten wir dann sowas wie eine Erleuchtung. Es ist … na, seht selbst.“ Sie überreicht uns eine große gerahmte Collage, die mit Fotos, witzigen Skizzen und kleinen Reimen die ganze Entwicklung unserer Beziehung nachstellt.
Wir starren fasziniert darauf und es dauert wohl eine Weile, bis uns einfällt, daß wir uns vielleicht bedanken sollten.
Martha fällt der Reihe nach allen um den Hals, ich bedanke mich etwas weniger temperamentvoll, aber genauso herzlich.
„Wo habt ihr denn die Fotos her.“, fragt Martha.
„Von uns.“, hören wir Saschas Stimme hinter uns. Er und Denise stehen da und grinsen breit.
„Das hier gehört auch noch dazu.“ Dana reicht Martha ein rotes Sparschwein mit weißen Punkten.
„Als Schwarm-Schwein hat es sich – zum Glück – nicht bewährt, aber vielleicht steht ihm ja eine steile Karriere als normales Sparschwein bevor. Da ist auch schon was drin.“
„Ihr seid sooo lieb!“, seufzt Martha.


„Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich hab Kohldampf.“, meint Sascha.
„Ich hab bis jetzt nicht so drauf geachtet … aber ich glaube, ich auch.“ Tatsächlich knurrt mein Magen ziemlich.
„Auch Hunger, mein Schatz?“, frage ich Martha, die gerade temperamentvoll mit Dana plaudert.
„Was? Oh, ja, ziemlich sogar.“
„Ich bring dir was mit.“
Martha nickt, will sich wieder Dana zuwenden, steht dann aber auf und küßt mich zärtlich.
So gefällt mir das.
„Na, hallo, das sieht aber mal richtig lecker aus.“, meint Sascha beeindruckt, als wir vor dem Buffet stehen.
„Charlie gehört eins der besten Restaurants in Düsseldorf und was die Auswahl hier angeht, würde sie sich niemals vorwerfen lassen, nicht das Beste angeboten zu haben. Schon gar nicht für eine Hochzeitsfeier.“ Elisabeth lächelt uns zu.
„Sicher schweineteuer, was?“
„Hm ja, einiges davon schon. Aber immerhin schmeckt es. Und es schmeckt ja nicht unbedingt alles, nur weil es teuer ist.“
„Wohl wahr. Ich kann zum Beispiel Kaviar so gar nix abgewinnen.“
„Haben Sie denn schon mal echten Kaviar gegessen?“
„Hab ich. Ist aber trotzdem nix für mich. Hier – der schöne Braten ist eher mein Fall.“
„Ja, dann – guten Hunger!“ Die Gräfin lacht und läßt uns allein.
„Hätt ich auch nicht gedacht, daß ich mal mit ‚ner echten Gräfin an so ‚nem edlen Buffet stehe und Smalltalk mache.“, grinst Sascha.
„Mach mal zu, Martha hat Hunger.“ Ich habe ihr von allem was aufgetan, von dem ich weiß, daß sie es mag.
„Du wirst aber verwöhnt.“, meint Dana, als ich Martha den Teller hinstelle.
„Oh, Juri, das ist aber lieb, danke!“, freut sich meine Süße.
Wir lassen es uns schmecken. Und das Essen ist wirklich klasse.
Ich genieße es, zuzusehen, wie Martha futtert und zwischen den Bissen Dana Details von der Trauung erzählt. Gisela und Peter setzen sich ebenfalls zu uns und auch sie beobachten ihre Tochter lächelnd.
Für eine ganze Weile hört man neben gedämpftem Gemurmel und gelegentlichen Lachern nur das Klimpern von Tellern und Besteck. Auch unsere übrigen Gäste haben Hunger.
Als alle vorerst satt sind, nimmt die Party wieder Schwung auf.
Marthas Eltern rücken näher.
„Ihr Lieben, wir … haben lange überlegt, was wir euch zur Hochzeit schenken könnten. Ihr habt ja schon einen vollständigen Hausrat und seid da ohnehin ziemlich anspruchslos. Und es soll ja was sein, worüber ihr euch richtig freuen könnt. Und da dachten wir, wir spenden euch eure Hochzeitsreise. Ihr wollt doch irgendwann nach Zagreb, nicht? Das Grab von Juris Eltern besuchen …“
Peter und Gisela sehen mich an, ganz sicher sind sie nicht, nicht ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Aber all die vielen Gespräche mit Martha, mit Sascha und natürlich mit meiner Therapeutin zeigen Wirkung. Auch wenn ich nicht gleich morgen würde fahren wollen … aber ich möchte meine Eltern besuchen. Ihnen zeigen, daß ich mein Glück gefunden habe. Ihnen für alles danken und dann Abschied nehmen, loslassen.
Deshalb nicke ich Marthas Eltern aufmunternd zu. Und die seufzen erleichtert auf.
„Dann dürfen wir euch die Reise schenken?“
„Würdest du mitkommen?“, fragt Martha Sascha.
Der verschluckt sich fast an seinem Bissen.
„Wenn Juri das möchte …“
„Ich hätte dich, ehrlich gesagt, gern dabei.“
„Dann komm ich mit. Sehr gern sogar. Also, wenn die Mutter meines Kindes nichts dagegen hat.“ Er sieht Denise fragend an.
Diese meint lächelnd: „Wenn ihr nicht erst fahrt, wenn ich kurz vor der Entbindung stehe, ist das okay für mich. Für Juri wird es eine große Unterstützung sein, wenn du bei ihm bist.“
Unwillkürlich frage ich mich, ob Peter und Gisela ahnen, daß mal was zwischen Sascha und mir passiert ist. Aber vermutlich denken sie lediglich, daß wir uns durch die Kriegserinnerungen verbunden fühlen.
Aber den Zeitpunkt, ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, habe ich wohl verpaßt. Nun ist ihre Tochter mit dem Mann verheiratet, der mal eine Waffe auf sie gerichtet hielt …
„Also, wenn Sascha mitkommen darf, dann … wäre das ein ganz wunderbares Geschenk.“, strahlt Martha.
„Fein.“, freuen sich ihre Eltern und lassen sich von Martha drücken und küssen.
Ich lächle den beiden dankbar zu und bekomme so liebevolle Blicke zurück, daß ich ein verdammt schlechtes Gewissen bekomme.
Während Martha sich von Dana zu einem übermütigen Tänzchen verleiten läßt und Sascha und Denise zum Buffet hinüberschlendern, nehme ich all meinen Mut zusammen.
Und erzähle Marthas Eltern leise, was passiert ist, was ich beinahe getan hätte. Ich erzähle von meinen Schuldgefühlen, meiner Angst, daß sich sowas wiederholen könnte. Aber auch, wie dankbar ich sowohl Martha als auch Sascha bin, daß sie mich nicht fallengelassen, sondern an das Gute in mir geglaubt haben.
Die beiden unterbrechen mich nicht. Und als ich geendet habe, setzt sich Gisela neben mich, sieht mir tief in die Augen und meint dann: „Mein Junge, das was du gerade erzählt hast … bestärkt Peter und mich nur noch mehr in unserer Überzeugung, daß du der Richtige für unsere Martha bist. Und wenn Martha und Sascha dir verzeihen und an dich glauben können, dann wir erst recht.“ Gisela nimmt mich in den Arm und ich … ich lasse ein paar Tränen der Erleichterung rollen.
Ich bin so froh, daß die beiden dies nun auch wissen, daß es nichts mehr gibt, das wir vor ihnen verbergen brauchen.
Und es bedeutet mir so wahnsinnig viel, daß Marthas Eltern nicht schockiert vor mir zurückweichen, mir ihre Zuneigung entziehen.
Plötzlich stehen Martha, Sascha und Denise vor uns. Und merken sofort, daß etwas passiert sein muß.
„Sie wissen es.“, sage ich und wische mir die Augen.
„Was?“, fragt Martha, obwohl ich sicher bin, sie ahnt es gleich.
Auch Sascha braucht mir nur in die Augen zu sehen, um Bescheid zu wissen.
„Ah ja …“
„Es ist alles gut.“, meint Peter.
Gisela drückt meine Hand, streicht mir kurz über den Kopf … und fordert dann ihren Mann zum Tanzen auf.
Ich sehe ihnen dankbar lächelnd nach.
„Wow! Das war mutig von dir.“, schnauft Sascha und läßt sich neben mir auf das Sofa fallen.
„Es mußte sein.“
Martha sieht mir lange in die Augen. Und meint dann: „Es ist gut, daß sie es jetzt wissen. Nun gibt es keine Geheimnisse mehr. … Hattest du Angst, daß … daß sie dir Vorwürfe machen?“
„Jein. Ich war mir … relativ sicher, daß es für sie das Wichtigste ist, was du denkst und fühlst. Und du wolltest mich ja trotz dieser Sache heiraten. … Aber … ganz sicher war ich mir eben doch nicht. Und … es wäre furchtbar für mich gewesen, wenn sie mich …“
„… nicht mehr gern hätten? Da kennst du meine Eltern schlecht. Die haben sich inzwischen ihr eigenes Bild von dir gemacht. Und glaub mir, sie haben dich sogar sehr, sehr lieb.“
Martha legt mir ihre Arme um den Hals und ich drücke sie lange an mich.


„Huhu! Wenn ihr mal kurz voneinander ablassen könntet … wir würden gern unser Geschenk loswerden.“
Kim. Dieses Organ kenne ich inzwischen.
In der Tat. Sie steht grinsend vor uns, im Arm einen großen Korb. Emilio daneben, leicht mit den Augen rollend.
Martha sieht beide gespannt an.
„Tja, wir dachten uns …“
Du dachtest dir.“, unterbricht Emilio sie.
„Ja ja, von wegen … also wir dachten, wir sorgen mal gleich von Anfang an dafür, daß im Ehebett keine Langeweile aufkommt. Nicht, daß ihr jetzt denkt, wir würden denken, ihr hättet das nötig.“ Kim lacht dreckig. „Aber schaden kann sowas nie. Und Spaß macht’s auch.“
„Um es kurz zu machen: Ihr müßt ausbaden, daß meine Frau Lust auf ein ausgiebiges Shopping im Sex-Shop hatte.“ Emilio lächelt etwas schief.
„Pffft.“ Kim drückt uns den Korb in die Hand.
Martha und ich stöbern interessiert darin.
„Das ist nicht euer Ernst!!!“ Ich halte einen Tanga hoch, der vorne einen rosa Elefantenrüssel hat.
„Zu groß? Kann ich umtauschen, gibt’s auch in kleiner.“ Kim duckt sich vorsorglich.
„Ich frag mich grad, wie du damit aussehen würdest.“, kichert Martha.
Ich werfe ihr einen mißbilligenden Blick zu.
„Würdest du sowas anziehen?“, frage ich Emilio.
„Nicht mal, wenn man mich mit ‚ner geladenen Wumme bedroht.“
„Im Ernst: Wenn du das Ding anziehen würdest, würde gar nix passieren, außer daß ich vor Lachen Bauchweh kriege. Wobei, ich glaub, das hab ich schon.“ Martha biegt sich inzwischen vor Lachen.
„Sehr ihr – genau dafür war das Ding da – als Scherzartikel zum richtig Ablachen.“ Auch Kim lacht.
Es finden sich durchaus schöne Sachen in dem Korb. Zum Beispiel eine ganz weiche Pfauenfeder zum Streicheln. Könnte Spaß machen, sich da durchzuprobieren.
Wir bedanken uns bei Kim und Emilio; die beiden freuen sich, daß uns ihr Geschenk doch gefällt.
„Die beiden kommen auf Ideen.“, kichert Martha.
„Hältst du die Sachen für unnötig?“
„Na ja … normal reichst du mir voll und ganz. Das heißt aber nicht, daß ein paar von diesen Sachen nicht doch ihren Reiz hätten …“
„Aha! So eine bist du!“
„Ich bin nicht so unschuldig, wie ich aussehe.“
„Das weiß ich längst. Und ich genieße das.“
Martha verengt ihre Augen zu kleinen Schlitzen, lächelt mich lasziv an … und ich muß schnell an was anderes denken oder in den Pool springen …


Obwohl es gar nicht soo viele Leute sind, ist richtig was los auf unserer Party.
Alle sind guter Laune, es wird gelacht, getanzt.
Immer wieder wird Martha zum Tanzen aufgefordert, von Peter, von Thomas, von Olli …
Danach stiehlt sie sich immer zurück zu mir, entschuldigt sich, wir tauschen ein paar kleine Zärtlichkeiten aus. Bis der nächste kommt.
Ich gönne Martha den Spaß.
Und ich fühle mich nicht unwohl.
Zumal ich von Aufforderungen zum Tanzen verschont bleibe. Aber es haben ja schließlich vorhin alle zugesehen. Kein Wunder also.
Als ich gerade wieder einmal so dastehe und meine Gedanken schweifen lasse, kommt Tristan und nimmt mich am Arm. „Wir zwei Hübschen zwitschern uns jetzt schön einen zusammen.“
„Okay.“
Wir setzen uns an einen freien Tisch und Tristan schenkt uns Wodka ein.
„So und nun Butter bei die Fische. Ich will alles wissen, jedes noch so kleine schmutzige Detail.“
Irritiert stoße ich mit ihm an, dann fällt mir wieder ein, daß er ja wissen wollte, wie Martha und ich zusammengekommen sind.
„Du meinst das ernst, ja?“, frage ich ihn.
„Todernst.“ Seine Mundwinkel zucken.
„Ja, wo fang ich an? Martha … sie … kennt mich soviel besser als ich mich selbst. Ich … ich hab durch sie viel über mich gelernt. Ohne sie … wär ich immer noch der unsozialisierte, emotionale Krüppel.“
„Sie scheint dein Leben ganz schön verändert zu haben.“
„Das hat sie. Durch sie weiß ich erst wieder, was es heißt, glücklich zu sein.“
„Das klingt ja alles schrecklich romantisch. Ich muß gestehen, ich hab von all dem Null mitbekommen. Sie war deine Assistentin und hat sich dann später irgendwie von dir abgenabelt und dann wart ihr plötzlich zusammen …“
„Martha …“ Ich sehe zu ihr hinüber. Da sitzt sie, meine Süße, im Gespräch mit Dana … Bilder ziehen vor meinem inneren Auge vorbei …
„Martha hatte sich gleich zu Beginn unserer … Bekanntschaft … in mich verliebt. Ich hab das … lange Zeit gar nicht wahrgenommen. Sie wollte es mir auch nicht zeigen, weil sie dachte, daß sie …“
„…eh keine Chance bei dir hat, weil du immer diese superschlanken Models abgeschleppt hast?“
„Ja. Und ich schäme mich dafür, sie lange, viel zu lange nicht als Frau gesehen zu haben.“
„Manches sieht man eben erst auf den zweiten Blick.“
Ich drehe mein Glas in den Händen, nehme einen Schluck und erinnere mich, wie ich Martha auf einmal mit ganz anderen Augen gesehen habe, als Sascha auftauchte.
„Martha … ich habe sie als Assistentin sehr geschätzt. Ich konnte mich absolut auf sie verlassen, konnte ihr vertrauen … ganz besonders, nachdem sie mich vor der Abschiebung bewahrt hat. Aber dann … Sascha …“
Tristan sieht mich gespannt an.
„Sascha hat Martha im Gegensatz zu mir gezeigt … daß sie eine begehrenswerte Frau ist. Nach all dem Frust mit mir hat ihr das richtig gut getan. Und ich … wurde mehr und mehr eifersüchtig. Nicht, daß mir das damals bewußt gewesen wäre. Ich hab nur diesen Schmerz in mir gefühlt, wenn ich die beiden zusammen gesehen habe. Und dann … gab es diesen Moment … Sascha und ich sind aneinandergeraten … er … er hatte längst gemerkt, daß ich etwas für Martha fühle … aber geahnt, daß ich ihr wehtun würde. Und nach unserem Zoff … hab ich Martha geküßt.“
„Das Happy-End war das anscheinend aber nicht.“
„Im Gegenteil. Ich … äh, konnte bis dahin nie Gefühle zulassen. Und nach diesem Kuß … ich hab Panik bekommen. Und in dieser Panik … hab ich Martha sehr verletzt. Nicht nur einmal. Und als ich dann endlich … soweit war, ihr zu sagen … daß ich sie auch liebe …“
„Hatte sie die Schnauze voll von dir.“
„Ja. Sie konnte mir nach allem einfach nicht vertrauen.“
„Und was ist dann passiert?“
„Dann ist ihre Tante gestorben.“
„Tante?“
„Viktoria Wolf.“
„Ach, Viktoria war ihre Tante? Das wußte ich gar nicht. … Hattest du nicht auch in der Limousine gesessen?“
„Ja. Als Martha von dem Unfall hörte … sie hatte … Angst um mich …“
„Klar. Gefühle kann man ja nicht von heut auf morgen einfach abstellen.“
„Nein. Sie hat mich immer noch … geliebt. So … sind wir dann zusammengekommen. Nach der Beerdigung … ich hab’s nicht mehr ausgehalten … zwei Menschen, die sich lieben und nicht … da hab ich sie einfach geküßt. Und so … wie sie meinen Kuß erwidert hat … ich glaube, der Gedanke, daß sie mich hätte verlieren können … der hat ihren Rest Widerstand bröckeln lassen …“
„Hm, da war wohl ihre Sehnsucht nach dir größer als ihre Angst, du könntest sie wieder verletzen.“
Ich nicke.
„Und seitdem seid ihr glücklich? Keine Krisen?“
„Ich hab gelernt, offen zu sein. Nicht mehr alles mit mir allein abzumachen. Und die Therapie hilft mir auch.“
„Therapie?“
„Ja, um mit meiner Vergangenheit abzuschließen.“
Tristan ist rücksichtsvoll und fragt nicht nach.
„Ich hab meine Eltern im Krieg verloren. Und das alles nie verarbeitet. Das nie loslassen können. Und es hat mich viel zu lange wie ein Alp verfolgt und belastet. Das wollte ich nicht mehr. Martha hat mir da schon sehr geholfen, sie war die Erste, der ich von … von meiner Vergangenheit erzählt habe. Eine ganze Weile, bevor wir zusammengekommen sind.“
„Hör mal, du mußt jetzt nicht dein Inneres vor mir ausbreiten. Das mit der Therapie find ich gut. Zu erkennen, daß sich etwas ändern muß, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Ich kenn‘ mich da aus. Und wie es aussieht, bist du auf einem guten Weg.“ Er nickt mir aufmunternd zu.
Martha rückt in unser Blickfeld. Sie tanzt ausgelassen mit Sascha.
Sie sieht so schön aus in ihrem Kleid.
Das scheint auch Tristan aufzufallen.
„Ist doch eigentlich ‚ne ganz Hübsche.“, meint er. „Ist das Kleid von dir?“
„Ja.“
„Steht ihr sehr gut.“
Wir beobachten Martha eine ganze Weile. Bis sie und Sascha zu uns kommen.
Martha lächelt mich an und küßt mich zärtlich.
Tristan macht eine leichte Verbeugung vor ihr, bietet ihr seine Hand dar und fragt: „Gnädigste, darf ich um diesen Tanz bitten?“
Martha weiß nicht, was sie davon halten soll; sie schwankt ein wenig zwischen Verlegenheit und dem Drang, loszuprusten.
Tristan sieht mich fragend an.
Und ich Martha. „Wenn du möchtest … für mich ist’s okay.“ Ich nicke ihr aufmunternd zu.
Sie ist nun doch verlegen, nimmt aber Tristans Hand und läßt sich von ihm zur Tanzfläche führen.
„Gar nicht eifersüchtig?“, fragt Sascha grinsend.
„Er ist nicht ihr Typ. Zu schmächtig. Martha mag’s lieber etwas kräftiger.“
„Ja, so schönen Bauchspeck wie du hat er nicht. … Aber ‚nen gefährlichen Charme, würd ich sagen.“
„Martha ist jetzt aber meinen Charme gewöhnt.“
„Ja, den Charme von ‚nem Betonpfosten.“, lacht Sascha.
„Rauh, aber herzlich, sagt man doch.“
„Hey, ich glaub, das tut ihr gut. Guck mal, wie sie strahlt.“
Martha strahlt wirklich. Gerade will sich doch so etwas wie Eifersucht bei mir melden, als ich Marthas Blick auffange, der nach mir sucht. Und der sagt so überaus deutlich, daß ich der Einzige für sie bin, daß sich diese lächerliche Eifersucht sofort in Luft auflöst.
„Ob Martha eigentlich klar ist, wie viele attraktive Männer sie schon in ihren Bann gezogen hat?“, fragt Sascha.
„Was meinst du?“
„Na, Emilio ist ‚n Typ, den die wenigsten Frauen von der Bettkante schubsen würden. Mit mir kann er zwar nicht mithalten …“
Ich knuffe ihn in die Seite. „Mach mal halblang, du Vogel!“
Sascha reibt sich die Rippen und lacht. „Was sie an dir Moppel findet, weiß ich zwar nicht, aber soviele Models, wie du im Bett hattest, scheinst du ja doch was Unwiderstehliches an dir zu haben. Na und jetzt Tristan, der ist ja auch nicht grad häßlich. … Ich frag mich halt, ob Martha das realisiert … daß sie doch ziemliche Chancen bei attraktiven Männern hat.“
„Die Chancen braucht sie nun aber nicht mehr.“, brumme ich.
„Hör mal, Alter, ich kann dir aus eigener schmerzlicher Erfahrung sagen, daß gegen dich kein anderer Mann ‚ne Chance hat. Sie wollte sich nicht mal auf mich einlassen, als sie noch dachte, daß du null Interesse an ihr hast. Wenn es einen Mann gibt, der keine Angst vor Konkurrenz haben mußt, dann bist du das. Aber hey, gönn ihr doch die Aufmerksamkeit und das Interesse.“
„Tue ich ja.“ Tue ich wirklich.
Dann führt Tristan Martha zurück zu mir, übergibt mir formvollendet ihre Hand, verbeugt sich noch einmal lächelnd vor Martha und läßt uns dann allein.
„Hey, du wirst ja rot.“, lache ich.
„Na ja … sowas passiert mir eben nicht so oft … mit so einem galanten Mann zu tanzen. Und Tristan ist ein echt guter Tänzer.“
„Im Gegensatz zu mir, hm?“
„Du hast andere Qualitäten.“
„Das will ich hoffen.“ Ich ziehe sie an mich und wir küssen uns lang und innig.



Kapitel 42


Kaum sitzen wir, machen uns Andi und seine Freundin Bella ihre Aufwartung.

„Mannomann, ihr solltet vielleicht Nummernzettel verteilen, damit man mal an euch rankommt. Seit gefühlten Stunden versuchen wir unser Geschenk loszuwerden.“

„Ach, du Ärmster.“, verspottet Bella ihren Freund liebevoll.

Die beiden tragen etwas sehr Sperriges zwischen sich.

„Also … ich hab mich breitschlagen lassen, dem Rat meines Freundes zu folgen, der meinte, das hier wäre genau das Richtige für euch. Ich meine ja, man kann das falsch verstehen, aber …“

„Nur weil du noch nicht willst … heißt das nicht, daß andere auch noch nicht wollen.“

„Ja, aber wir kennen die beiden gar nicht gut genug, um zu wissen, ob sie schon wollen.“

„Und wenn nicht, ist doch auch nicht schlimm.“

„Und was sollen sie dann damit?“

„Was weiß ich? Als Nähkorb nehmen. Oder ‚nen Teddy reintun.“

Martha und ich sehen uns an und können uns das Lachen kaum verkneifen.

Wir beide ahnen zwar inzwischen, um was es geht, aber diese seltsame Unterhaltung amüsiert uns.

„Ehm, ihr beide … dürfen wir vielleicht einfach auspacken und gucken, worüber ihr redet?“, gluckst Martha.

„Was? Äh ja, natürlich. Mann, Andi, du bringst mich völlig aus dem Konzept.“

„Wassen fürn Konzept?“
Martha reißt das Papier auf … und eine wunderschöne Kinderwiege aus Holz kommt zum Vorschein. Honiggelb lackiert, mit schönen Drechseleien an Stirn- und Rückseite.
„Ist die schöööön!“, seufzt Martha.
„Sie gefällt dir?“ Bella beginnt zu strahlen.
„Oh ja! Die ist traumhaft, ganz wunderbar.“
„Siehste.“, triumphiert Andi.
„Das heißt aber noch lange nicht, daß sie auch Verwendung dafür haben.“
„Und? Habt ihr? Bitte sagt ja, sonst krieg ich das für den Rest des Abends auf’s Butterbrot geschmiert.“
„Ja, wir wollen ein Kind. Nur nicht ganz so bald. Aber schon in absehbarer Zeit. Also keine Sorge – sie wird Verwendung finden. Und nicht nur als Nähkorb.“
„Gut.“ Andi seufzt erleichtert.
„Die sieht nicht gekauft aus.“, meine ich.
„Natürlich nicht. Die hat Bella selbst gemacht. Sie ist Tischlerin und hat echt ein Händchen für sowas.“ Man merkt, daß Andi stolz auf die Fähigkeiten seiner Freundin ist.
„Uiii! Also eine echte, liebevolle Einzelanfertigung nur für uns?“
Bella nickt strahlend.
„Danke!“
Martha ist aufgestanden und fällt erst Bella, dann Andi um den Hals.
Und macht beide damit ziemlich verlegen. Aber wenn Martha sich freut, dann freut sie sich eben richtig.
Da klingelt mein Telefon.
Ah, mein Überraschungsgast!
Da Martha noch mit Bella und Andi beschäftigt ist, kann ich meiner Überraschung sagen, daß sie reinkommen kann.
Ich gehe rüber zu Tristan und bitte ihn, ein bestimmtes Stück zu spielen.
Während ich Richtung Tür gehe, um meinen Gast abzufangen, blicke ich zu Martha, die gleich aufgemerkt und das Stück erkannt hat. Ich sehe, daß sie mit den Augen nach mir sucht.
„Jeremije, schön, daß du da bist!“
„Juri!!! Swe naljboje za vencanje!“
Was soviel wie ‚Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit‘ heißt.
Er drückt und küßt mich.
„Und nun – wo ist deine süße Ehefrau?“
„Komm, ich bring dich zu ihr.“
Wenige Sekunden später stehen wir vor Martha.
Die sieht Jeremije an, dann mich, dann wieder Jeremije.
„Und? Freust du dich? Ich dachte mir, wo du doch so gern mit ihm geflirtet hast …“
„Ich hab nicht … egal! Ich freu mich sehr, das ist total süß von dir.“
Hm, Überraschung gelungen, scheint mir.
„Darf ich deine Frau umarmen?“
„Das mußt du sie selbst fragen.“
Martha nickt strahlend.
Und so drückt und küßt Jeremije auch sie.
„Sie ist so wunderschön.“, meint er anschließend zu mir. „Du mußt Knall gehabt haben, so eine Frau nicht zu wollen. Gott sei Dank du bist zu Verstand gekommen. … Und du, warst du so verliebt damals. Und so unglücklich. Und jetzt … bist du seine Frau. Traum ist wahr geworden, hm?“
„Mit der Realität kann der Traum gar nicht mithalten.“
„Uiii, das ist aber Kompliment für dich.“ Jeremije stupst mich in die Seite.
„Kommt, laßt uns tanzen.“, sage ich.
Auch Sascha und Denise machen begeistert mit.
Und diese Art zu tanzen, liegt mir mehr als der Walzer.
Bald sitzt keiner mehr auf seinem Platz. Wie bei unserer Verlobung tanzen alle um uns herum.
In all dem fröhlichen Trubel sehen Martha und ich uns an.
„Du und ich – Mann und Frau, hm?“
Martha nickt glücklich lächelnd.
Und dann küssen wir uns lang und zärtlich.
Ich sitze tatsächlich gemütlich mit Martha zusammen, sie an mich gelehnt, eine Hand auf meinem Bein und genieße es, sie mal ein wenig für mich zu haben.
Ihre Körperwärme spürend kann ich mich trotz des Trubels um uns entspannen und döse für einen Moment ein.
Dann ist es mit der Ruhe allerdings auch schon wieder vorbei.
Marlene und Rebecca setzen sich zu uns.
„Hört mal, wir haben ein ziemliches Problem mit eurem Hochzeitsgeschenk. Wir, äh … wir hatten halt keine Ahnung, was eure Freunde euch schenken und … na ja, Rebecca hatte da grade so eine Idee. Sie würde gerne ein schönes Foto von euch machen und davon ein Bild malen. Das könnten wir euch rahmen … wär das was?“ Marlene blickt uns verlegen an.
Martha nickt sofort begeistert. Und ich denke, daß das eigentlich eine schöne Idee ist. Eine Art Gemälde von Martha und mir als Brautpaar … doch, das gefällt mir.
Und so nicke ich ebenfalls.
Marlene und Rebecca scheint ein ganzes Gebirge vom Herzen zu fallen, so wie sie jetzt seufzen.
Wir scheinen wirklich ein Härtefall zu sein.
Nach Thomas sowie Marlene und Rebecca ist Josie die nächste, die erklärt, Probleme mit einem Geschenk für uns zu haben.
„Ihr bekommt ja Fotos von der Trauung und auch hier wird fleißig geknipst, wie ich sehe. Ich würde euch gerne ein Album basteln, sowas kann ich ganz gut. Wird ein paar Tage brauchen, ich brauch ja auch erst die Bilder. Aber das wäre dann immerhin ein persönliches Geschenk.“
„Also, ich fänd’s toll. So ein liebevoll gestaltetes Album … das nimmt man doch gern immer wieder in die Hand und schwelgt darin.“
Ich finde diese Idee auch sehr schön.
Vor allem gefällt mir, daß wir nach unserer Hochzeitsfeier nicht mit Vasen, Bestecksets und ähnlichem Kram, mit dem wir nichts anfangen können und der uns noch weniger bedeutet, nach Hause fahren müssen.
Unsere Freunde machen sich wirklich Gedanken, wie sie uns eine echte Freude machen können. Und erfüllen nicht nur eine lästige gesellschaftliche Pflicht.
Ein Weilchen später sitzen Martha und ich bei Thomas, Peter und Gisela, die über alte Zeiten plaudern.
Sascha und Denise sehe ich bei Dana, Jessica und Ricardo. Martha meint kichernd, die würden sich sicher den neuesten WG-Tratsch erzählen.
Jeremije, der sich erst eine Weile an uns gehalten hatte, plaudert mit Bella. „Das gefällt Andi aber gar nicht.“, meint Martha, wieder kichernd. Und ein Blick in Andis Gesicht gibt ihr Recht.
So vergeht der Abend wie im Flug.
Eine Weile plausche ich mit Sascha und Jeremije, während Martha mit Rebecca, Elisabeth und Charlie zusammensitzt und fachsimpelt.
Große Heiterkeit und anerkennende Pfiffe ertönen, als Sascha Gräfin Elisabeth zum Tanzen auffordert … und sie die Aufforderung annimmt.
„Das macht ihm Spaß.“, lacht Denise und beobachtet ihren Schatz amüsiert.
Sascha tanzt allerdings weit besser als ich.
Daß wir nun schon fast Mitternacht haben, hätten wir sicher nicht gemerkt, wenn nicht Tristans Stimme aus dem Lautsprecher verkünden würde, daß es eben gleich Mitternacht sei und wir uns doch bitte alle draußen versammeln mögen – Freund Olli hätte da noch ein besonderes Hochzeitsgeschenk für uns.
Völlig ahnungslos gehen wir also vor die Tür, sehen uns fragend an.
Und dann – ein Feuerwerk!
Na, ich hätte das jetzt nicht gebraucht, aber Martha strahlt ähnlich wie die bunten Raketen und freut sich.
Ich lege meinen Arm um sie, ziehe sie dicht an mich und so kann ich das Feuerwerk auch genießen.
Aber auch unseren Gästen gefällt die zischende Farbenpracht.
Olli kommt zu uns. „Ich hoffe, es gefällt euch. Und damit ihr noch was zum mit nach Hause nehmen habt – der hier ist auch für euch!“ Mit diesen Worten drückt er Martha einen riesigen Teddy in die Arme. „Sowas ist nie verkehrt, finde ich.“
Ich bin nicht so der Teddybärtyp, aber dieses Plüschtier ist schon ganz knuffig.
„Der passende Kumpel und Vertraute für eventuellen Nachwuchs.“, kichert Martha. „Danke, Olli!“ Martha drückt mir den Bär in die Hand, um Olli umarmen zu können.
Kurz danach verabschieden sich Marthas Eltern und auch Thomas, der die beiden mit zu sich nach Hause nimmt. Für Gisela und Peter war es ein langer Tag und wir haben Verständnis dafür, daß sie nun müde sind.
„Irgendwie beneide ich sie ein bisschen.“, flüstert Martha mir zu. „Mich jetzt mit dir ins Bett kuscheln können …“
Dagegen hätte ich auch nichts.
Irgendwann sind dann auch Elisabeth und Charlie weg.
Andi nötigt Bella zum Gehen, um sie von Jeremije loszueisen.
Wo Gloria steckt, wissen wir nicht.
Josie wird mit Sascha und Denise in der WG nächtigen.
Jessica hat sich schon von Ricardo nach Hause bringen lassen, um Maxi ins Bett zu bringen, der trotz des Trubels hier seelenruhig im Vorratslager gepennt hat.
Auch Marlene und Rebecca sind gegangen.
Übrig sind zuletzt nur noch Dana, Sascha, Denise sowie Tristan und Jeremije.
Jeremije verlangt nach Sljivovic für uns alle.
„Boah, muß das sein?“ Tristan verzieht das Gesicht. „Könnt ihr nicht Wodka saufen wie jeder anständige Mensch? … Na gut …“
„Für mich O-Saft, bitte!“, meldet sich Denise.
Jeremije sieht sie gekränkt an.
„Ich bin schwanger.“, erklärt Denise.
„Oooh, okay, dann natürlich kein Alkohol.“ Jeremijes Miene hellt sich wieder auf.
Tristan holt das Gewünschte und gießt uns ein.
Wir wollen grad anstoßen, als Martha aufsteht.
Sie gießt den Inhalt ihres Glases auf den Boden. „Für die Götter.“ Dann schenkt sie sich nach, zieht hörbar Luft ein … „Ziveli!“ … und kippt den Sljivo runter. Mit einem Knall setzt sie ihr Glas auf dem Tisch ab.
Alle sehen sie an, Tristan ausgesprochen erstaunt.
Dann lachen wir alle.
„Ziveli!“ ertönt es reihum.
„Bäh, ist das widerlich.“, meint Dana.
„Na, mein Fall ist es auch nicht.“, lacht Martha. Aber für mich hängen an diesem Gesöff gewisse Erinnerungen.“
„Verstehe.“
Wir plaudern noch eine Weile, aber dann ist klar, wir sind alle müde.
Jeremije bietet sich an, Dana, Sascha und Denise in die WG zu fahren.
Nach ausgiebigem Drücken und Küssen sind sie weg und wir mit Tristan allein.
Der macht nun eine Runde durch den Laden.
„Ich glaub, der guckt, ob wirklich alle weg sind.“, kichert Martha.
Schließlich kommt er zu uns.
„Tja, keiner mehr da außer uns. Und ich geh jetzt auch. Heißt, ihr seid ungestört. Kerzennachschub gibt’s hinter der Theke. Hier ist der Schlüssel, sperrt hinter mir zu. Und wenn ihr morgen … äh, heute … ausgeschlafen habt und wieder anständig bekleidet seid … gebt Bescheid. Charlie wartet mit ‚nem Frühstücksbuffet. Ist mein Hochzeitsgeschenk für euch. Viel Spaß!“ Er zwinkert uns beiden zu, dreht sich um und geht.
Martha und ich sehen uns fassungslos an.
Dann flitzt meine Süße Tristan hinterher, drückt ihm einen Kuß auf die Wange.
Er lächelt und ich meine sowas wie „Laß dich schön verwöhnen.“ zu hören.
Martha und ich sehen Tristan nach, bis die Nacht ihn verschluckt hat.
Ich will mich Martha gerade zuwenden, als sie mich ans Abschließen erinnert. Ich lasse den Schlüssel von innen stecken, so kann er uns nicht abhandenkommen.
„Nun sind wir also allein.“, meint meine Süße.
„Irgendwelche Wünsche?“, frage ich und sehe ihr tief in die Augen. „Was immer du möchtest, ich tue es.“
Sie schmiegt sich an mich und eine Weile stehen wir einfach so da. Ich stütze meinen Kopf auf ihre Schulter.
„Wir können auch … einfach zusammengekuschelt einschlafen. Das wär absolut okay für mich.“, meine ich leise.
„Keine leidenschaftliche, heiße Liebesnacht?“
Ich höre aus ihrem Unterton heraus, daß ihr danach auch nicht unbedingt der Sinn steht. Also nicht, daß sie komplett ablehnen würde, aber …
„Was möchtest du?“, frage ich ganz zärtlich.
„Hm … in dem Korb von Kim und Emilio ist so ein Massageöl. Ich glaub, das riecht ganz wunderbar. Wie wäre es denn, wenn wir uns einfach so streicheln und liebkosen? … Du weißt, wie sehr ich es liebe, deine warme Haut zu spüren …“
„Das ist ja auch unheimlich schön. … Und ja, so ganz ausgiebiges Nur-Streicheln und Schmusen würde mir sehr gefallen.“
Und das meine ich absolut ernst.
„Das wäre auch was Besonderes. Ich mein‘, in der Hochzeitsnacht miteinander schlafen – das tun doch fast alle. Ja, wenn es jetzt unser erstes Mal wäre …“
„Heißt das, es wird dir mit mir langweilig im Bett?“, tue ich gekränkt.
„Was? Ach, du Spinner!“ Sie küßt mich sehr, sehr zärtlich.
„Wollen wir noch eine Runde im kühlen Wasser drehen?“, frage ich, während ich ein paar Spanische Wände so aufstelle, daß unser „Ehebett“ am Pool und der Pool selber von draußen nicht einsehbar sind.
„Ja, gerne.“
Wir sind schnell ausgezogen. Martha befallen für einen Moment Hemmungen. Badesachen haben wir nicht mit und in ihrer Unterwäsche will sie nicht ins Wasser.
„Ich habe mich genau überzeugt, daß man von draußen nichts sehen kann.“, sage ich. „Außer mir sieht dich niemand.“ Das beruhigt sie.
Das Wasser ist kühl, Martha quiekt leise, als wir uns hineingleiten lassen.
Wir schwimmen nur einmal hin und zurück. Dann trocknen wir uns gegenseitig ab. Martha kichert vergnügt, als ich ihr die Haare trocken rubble.
Dann hebe ich sie hoch und trage sie hinüber zu der großen Doppelliege.
„Also wenn mir schon alles anders machen – das zumindest muß sein.“, sage ich bestimmt.
Aber Martha protestiert nicht.
Ich setze sie sanft ab, lege mich neben sie; auf einen Ellenbogen gestützt sehe ich Martha … meine Ehefrau … glücklich an.
Martha greift nach einer Flasche, öffnet sie und schnuppert daran.
„Mmmh. Hier, riech mal.“
Das Öl riecht süß nach Orange und sehr appetitlich.
Das auf Marthas Haut … mir kommen Zweifel, ob ich es wirklich schaffe, mich nicht zu erregen.
Martha liest offenbar meine Gedanken. „Hey, wenn’s doch passiert … passiert es eben.“
Aber dann …
Ich glaube, ich habe die körperliche Liebe noch nie so intensiv erlebt wie in dieser Nacht mit Martha, wo wir uns einfach nur gegenseitig streicheln, uns küssen und zärtlich liebkosen.
Und nein, es erregt mich nicht. Dafür empfinde ich soviel mehr … es überwältigt mich gradezu.
Ich spüre Marthas sanfte Finger, die mir die Augenwinkel wischen. Ich habe gar nicht gemerkt, daß ich feuchte Augen habe.
Ich ziehe sie an mich, vergrabe mein Gesicht in ihrem weichen Haar.
„Ich liebe dich so.“ Ich schluchze es beinahe mehr als ich es sage und komme mir kein bisschen peinlich dabei vor.
Ich war nur noch nie so unglaublich glücklich wie in diesem ebenso intimen wie zärtlichen Moment mit Martha.
„Ich dich auch.“ Martha ist hörbar gerührt.
Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und sieht mich so voller Liebe an …
Wir küssen uns lang und innig.
Und dann schlafen wir zusammengekuschelt ein.
Ich weiß nicht recht, ob ich das nur träume oder ob Martha wirklich zärtlich meinen Rücken streichelt und sich meine Wirbelsäule hinab küßt.
Ich seufze tief und drehe mich dann langsam zu ihr um.
„Guten Morgen, Juri.“, sagt sie leise und sehr liebevoll.
Ich ziehe sie an mich und küsse sie lang und genüßlich.
Martha schmiegt sich eng an mich, liebkost mich auf sehr anregende Weise.
Und meint dann: „Also jetzt … würde ich doch ganz gerne …“
„Sehr gern.“, hauche ich ihr ins Ohr.
Krame in Kim und Emilios Korb.
„Rot, gelb oder blau?“
„Was? Ach so! Egal.“, kichert sie.
Martha sieht mir tief in die Augen, als ich mich über sie beuge und es ist mir deutlich bewußt, daß sie jetzt meine Frau ist … ein wunderschönes Gefühl, das dieses erste Mal innerhalb unserer Ehe zu etwas Besonderem macht …
Wir sind nochmal eingeschlafen und werden mehr oder weniger von Marthas Magenknurren wach.
„Tristan anrufen?“, frage ich.
„Ja, bitte.“, lacht sie.
Der Anruf ist schnell erledigt. Danach duschen Martha und ich ausgiebig, ziehen uns dann an und räumen unsere Schlafstatt auf.
Bald ist Tristan da und befehligt Charlies Helferlein, die das Buffet aufbauen.
„Und?“, fragt er uns und grinst.
Martha und ich sehen uns an, lächeln glücklich … und sagen nichts.
„Na, dieses selige Lächeln sagt ja mehr als genug. – Also, auf dem Schloß habe ich Bescheid gegeben, heißt, Elisabeth, Rebecca und Marlene dürften bald hier sein. Ihr solltet eure Freunde und Verwandten dann auch mal aus den Federn klingeln. Ich mach mal Kaffee.“
Martha und ich teilen uns die Anrufe auf und binnen einer halben Stunde sind wir so ziemlich vollzählig.
„Sind alle da? Ich hab soooo Hunger.“
„Du mußt doch nicht warten, mein Schatz. Guck, Sascha bedient sich auch schon.“
Martha wirft einen empörten Blick zu unserem Freund hinüber, lacht dann aber. „Du hast Recht.“
Und so wird das Frühstück eine sehr schöne, zwanglose Angelegenheit.
Man findet sich zu kleinen Grüppchen zusammen, setzt sich mal hier, mal da für eine Weile dazu.
„So wie Martha wieder strahlt und herumschwebt, muß die Hochzeitsnacht sehr schön gewesen sein.“, meint Sascha leise zu mir.
Ich nicke nur.
„Ist sicher herrlich romantisch gewesen, hier mit Kerzenlicht am Pool.“
„Ja … es war … wahnsinnig schön …“
Sascha sieht mich lächelnd an, ich lächle zurück.
Das Buffet ist phantastisch und es gibt kaum einen, den es nicht immer wieder dahin zieht. Selbst so auf ihre Figur achtende Models wie Gloria oder Jessica.
Und niemand wird müde, den gestrigen Tag Revue passieren zu lassen.
Offenbar war es nicht nur für Martha und mich eine wundervolle Feier.
Viel zu schnell geht die Zeit vorbei und der Abschied naht.
Als erstes brechen Marthas Eltern auf. Thomas wird sie zum Bahnhof fahren.
Martha möchte sie dahin begleiten, aber Gisela und Peter meinen, sie solle ihre anderen Gäste nicht vernachlässigen.
Seufzend gibt sie nach.
Umarmt beide lange.
Dann bin ich an der Reihe.
Die beiden lächeln mich an … und drücken mich wortlos. Gisela streicht mir über den Kopf und ich merke, sie hat mich wirklich lieb.
Und das bedeutet mir so viel.
Marthas Eltern können mir meine eigenen nicht ersetzen.
Aber mit ihrer Zuneigung und ihrem Vertrauen geben sie mir etwas, was meinen Erinnerungen an Liebe und Geborgenheit, die mir Mama und Papa geschenkt haben, recht nahe kommt.
Martha fällt das Abschiednehmen auch von den Freunden, besonders Dana, sehr schwer.
Aber auch ich bin berührt.
Jeremije hat uns versprochen, daß wir in Kontakt bleiben.
Tristan mahnt uns, mal von uns hören zu lassen.
Und dann stehen Martha und ich am Bahnhof und winken Sascha, Denise, Josie und Gloria nach – bevor wir selbst ins Taxi steigen, um zum Flughafen zu fahren.
In weniger als drei Stunden werden wir zuhause sein.
Und unsere Hochzeitsfeier nur noch eine schöne Erinnerung.
Aber Martha und ich … wir sind verheiratet … und das ist nicht nur eine Erinnerung.


Kapitel 43


Als wir im Flugzeug sitzen, lehnt sich Martha wieder an mich, schnauft laut durch und schließt die Augen.
Und ich … ich denke wieder daran, daß Martha und ich nun verheiratet sind.
Sicher wird das einmal eine Selbstverständlichkeit sein, über die ich nicht ständig nachdenke.
Aber noch ist es ein ungewohntes Gefühl.
Allerdings ein sehr, sehr schönes.
Ich schließe nun auch die Augen und Einzelheiten der Feier ziehen an mir vorbei.
Es war wirklich eine wunderschöne Feier.
Mit lieben Menschen, die unser Glück teilten und sich mit und für uns gefreut haben.
Das schönste Geschenk habe ich mir aber selbst gemacht … mit meiner Offenheit Peter und Gisela gegenüber …
Ich fühle sehr viel Dankbarkeit für die beiden.
Und merke, daß sie mir sehr lieb geworden sind.
Nicht nur, weil es Marthas Eltern sind.


Dann sind wir zuhause.
Ich schließe auf und Martha und ich atmen gleichzeitig tief ein.
„Ich sag Finchen Bescheid, sie wäre sicher gekränkt, wenn wir uns einfach so nach oben verkrümeln würden.“
Wahrscheinlich.
Aber unser guter Hausgeist scheint uns gehört zu haben.
Oder Carlo hat gepetzt.
Jedenfalls geht die Tür zum Hinterhof auf und da ist sie, mit dem Kater auf dem Arm.
„Fiiiiiinchen!“ Martha schließt sie gleich in die Arme.
Carlo springt empört maunzend zu Boden.
Ich kraule ihn, er schaut mich an … und schnurrt.
„Du hast Carlo ignoriert, das findet er nicht so toll.“, sage ich zu Martha.
„Och, Entschuldigung, mein Kleiner.
Carlo nimmt ihre Entschuldigung ohne zu zögern an.
Hätte ich aber auch, wenn ich so zärtlich gestreichelt würde.
Ich umarme Finchen nun auch.
„Schön, daß ihr wieder da seid, Kinders. War schon ein bisschen langweilig ohne euch. … Wie sieht es aus – feiern wir nachher ein wenig? Ich koch uns was und ihr erzählt mir alles ganz ausführlich.“
Martha nickt sofort. Wenn es nach ihr ginge, würde sie gleich loslegen.
Aber ich schaffe es, Martha dazu zu bringen, sich mit mir eine Stunde hinzulegen und zu kuscheln, bis Sascha und Denise da sind.
Freilich geht das nicht, bevor sie nicht ihre Eltern angerufen und sich versichert hat, daß sie gut zuhause angekommen sind. Und auch Dana muß sofort wissen, daß wir heil in Berlin gelandet sind.
Aber dann …
Und das Kuscheln und die Ruhe tun sehr gut.
Carlo legt sich zu uns; es scheint, er hat uns vermißt.
Mit dem Kater zwischen uns schlummern wir ein.
Bis mich leises Klopfen weckt.
Die Tür öffnet sich einen Spalt und ich höre Saschas Stimme. „Hey, seid ihr wach?“
Mist, wenn ich antworte, wecke ich Martha, die so schön schläft.
Da lugt Sascha herein, ich deute auf meine Frau, lege den Finger an die Lippen – Sascha lächelt und schließt die Tür leise wieder.
Eine Viertelstunde später wird auch Martha wach.
„Du, Sascha und Denise sind da.“
„WAS? Warum hast du mich nicht geweckt?“
Sie ist schon halb aus dem Bett, als ich sie festhalte.
Sie verliert das Gleichgewicht und purzelt mir quasi in die Arme.
„Nicht so eilig, Süße.“
Gerne läßt sie sich zärtlich küssen.
Und danach hab auch ich nichts mehr dagegen, aufzustehen und unsere Freunde zu begrüßen.
Inzwischen ist es früher Abend, draußen dämmert es bereits.
Umso gemütlicher ist es in unserer kleinen Wohnung.
Finchen und unsere Mädels kochen eine Kleinigkeit, während Sascha und ich den Tisch decken.
Und dann sitzen wir zusammen, lassen es uns schmecken und erzählen Finchen ausführlich von unserer Feier.
Martha läßt kaum ein Detail aus, immer wieder fällt ihr noch was ein, angekündigt von einem „Ach ja …“.
„Deine Frau!“, grinst Sascha.
"Unsere Martha.“, sage ich. Diese Seite an meiner Süßen teile ich gerne mit meinem besten Freund.

Einem spontanen Gefühl nachgebend springe ich auf und knutsche meinen besten Freund auf beide Wangen.

Der macht große Augen. „Wassen los, Alter?“, kichert er dann.

„Dafür, daß du ‚deine Frau‘ gesagt hast.“

Sascha sieht mich an … dann lächelt er.

Ich glaube, er versteht.

Ja, Martha ist jetzt meine Frau, aber daß er das so selbstverständlich ausspricht …


Es wird ein richtig schöner Abend.
Wir sehen uns gemeinsam den Film von der Trauung an. Und danach Thomas‘ Film von der Feier. Der muß fast den ganzen Abend mit der Kamera rumgelaufen sein.
Entsetzt stelle ich fest, daß er auch meinen Walzertanz mit Martha festgehalten hat.
Deutlich sehe ich, wie Finchen grinst.
„Na, da muß aber jemand noch fleißig üben.“
Ich will grad was sagen, als Martha mir zuvorkommt.
„Nee nee, das ist unser einziger und letzter Walzer gewesen. Ich mach mir da nichts draus. Zu den Balkanrhythmen zu tanzen, macht mehr Spaß. Vor allem weil Juri da Juri ist.“
Als Finchen sich verabschiedet hat, sind wir vier unter uns.
Nach Plaudern ist uns gar nicht mehr so.
Wir kuscheln uns auf dem Sofa zusammen, hängen unseren Gedanken nach … und schlafen darüber ein. Als wir später wachwerden, ziehe ich meine halbschlafende Martha mit mir in unser Schlafzimmer, während Sascha und Denise sich gemütlich ausstrecken, da sie das Sofa nun für sich allein haben.


Am folgenden Montag bleibt unser Laden, wie vorher abgesprochen, noch geschlossen.
Das ist auch ganz gut, denn so ganz sind wir noch nicht im Alltag angekommen.
Janine kommt vorbei, mit einem lieben Gruß von ihrer Bekannten Natalie … und den Fotos.
Spontan laden wir sie, Josie und Janine zum Kaffee am Nachmittag ein.
Martha meint nämlich, Kaffee und Kuchen und dazu Fotos gucken wäre fein.
Und stellt sich gleich in die Küche, um zu backen. Finchen backt auch sofort, als wir ihr Bescheid geben.
Und ich, ich freue mich tatsächlich auf das Gewusel am Nachmittag.
Vorher allerdings … klingelt das Telefon.
„Sagen Sie mal, Herr Adam … warum muß ich eigentlich hintenrum erfahren, daß Sie Ihre reizende Geschäftspartnerin geheiratet haben? Ganz ehrlich – ich hätte mich über eine Einladung sehr gefreut.“
Mosch.
„Das … äh, war eine Feier im kleinen Kreis. Nur Familie und enge Freunde.“
Ich wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, Mosch einzuladen, aber unangenehm ist mir das jetzt irgendwie doch.
„Verstehe. Na, kann man nichts machen. Ihnen ist aber klar, daß das für Gesprächsstoff sorgt. Und daß alle Ihre nächste Kollektion mit noch mehr Spannung erwarten werden.“
Was? Wieso das denn?
Aber Mosch erklärt sich nicht und ich habe weder Lust, ihn zu fragen noch überhaupt über seine komische Bemerkung nachzudenken.
Martha steht inzwischen neben mir, sieht mich fragend an. Ich forme mit den Lippen den Namen ‚Mosch‘, verdrehe die Augen dabei … und Martha versteht.
„Jedenfalls – herzlichen Glückwunsch und alles Gute! Wollen wir gemeinsam hoffen, daß ihre Verbindung noch viele erfolgreiche Blüten trägt.“
„Vielen Dank.“
War’s das?
„Ist Ihre Frau da? Ich würde ihr gerne auch gratulieren.“
Erleichtert reiche ich das Telefon an Martha weiter.
Jetzt macht mir Moschs Anruf Spaß. Martha zieht nämlich Grimassen und ich habe Mühe, mir das Lachen zu verkneifen.
Martha verspricht Mosch, ihm ganz offiziell eine Anzeige über unsere Vermählung zu schicken, mit Foto. Erst danach ist er beruhigt.
„Hätt‘ ich nicht gedacht, daß der da so ‚nen Wirbel drum macht. Ich mein‘, so wichtige Personen sind wir doch nicht.“, wundert sich Martha.


Zum Mittag gibt es Reste vom Buffet. Tristan hat einpacken lassen, was ohne Kühlung überlebt und transportfähig ist.
Danach machen wir mit Sascha und Denise einen langen Spaziergang.
Mir kommt unterwegs eine Idee.
„Ich, äh, muß nach Haus.“ Ich küsse Martha kurz und bin schon weg.
„Wenn er eine Idee hat …“ - „… muß sie raus.“, lachen Martha und Sascha mir nach.
Eine andere Frau wäre vielleicht eingeschnappt gewesen, daß mir zwei Tage nach der Hochzeit die Arbeit schon wieder so wichtig ist, daß ich meine Frau einfach so stehenlasse.
Aber zum Glück weiß Martha, wie ich ticke.
Zuhause schnappe ich mir meinen Skizzenblock.
Wann die drei wiederkommen, kriege ich nicht mit.
Aber zur Kaffeezeit bin ich fertig mit dem Entwurf.
Und so kann ich den Nachmittag entspannt genießen.
Richtig schön wird der.
Finchen entführt Sascha kurz und überrascht uns dann mit einem großen, schweren Paket.
Martha packt es ungeduldig aus und zum Vorschein kommt eine alte, offenbar handbemalte Holztruhe.
„Da könnt ihr alles reinpacken, was euch als Erinnerung lieb und teuer ist. Und eure Kinder können später darin eine Zeitreise durch das Leben ihrer Eltern machen.“
Unwillkürlich erinnert mich das an meinen Koffer mit den Erinnerungen aus meiner Heimat …
Martha herzt Finchen ausgiebig. Was mich angeht - mir fehlen die Worte, aber Finchen spürt genau, daß ich mich sehr über dieses schöne Geschenk freue.
Dann zeigt Martha Finchen und Janine unsere Geschenke aus Düsseldorf.
Die Kinderwiege stößt auf Begeisterung.
Aber auch die anderen Geschenke finden Beachtung.
Finchen grinst nur zu dem Korb mit dem erotischen Inhalt.
Janine freut sich sehr, durch Thomas‘ fleißige Filmerei soviel von der Party sehen zu können.
Martha kommt kaum zum Kuchenessen, weil sie immer wieder Erklärungen dazwischenwirft.
Bis Sascha meint: „Martha, bei dir fehlt so eine Pause-Taste. Damit man dich wie den Film mal zwischendurch anhalten kann.“
Martha weiß, es ist liebevoll gemeint, tut aber empört.
Grad will sie Sascha scherzhaft ausschimpfen, als ich sie zu mir auf den Schoß ziehe.
Ich halte ihr meine Kuchengabel hin. „Mund auf.“ … „Und kauen.“
Martha sieht mich an, als wolle sie mir auch eine Standpauke halten.
Aber ich lächle sie an und obwohl sie nicht will, muß auch sie lächeln.
Nachdem sie den Bissen runtergeschluckt hat, legt sie mir die Arme um den Hals und küßt mich zärtlich.
Sie schmeckt süß nach Schokolade und Kirschen.
„Und ich?“, grinst Sascha.
„Was? Soll ich dich auch küssen oder wie?“ Martha sieht mich an.
Und ich sehe Denise an, die mir zugrinst.
Es ist nur ein Spaß.
Und deshalb sage ich Martha, daß sie gerne darf, wenn sie möchte.
So bekommt auch Sascha ein Küßchen auf den frechen Schnabel.
„Verdient hast du’s nicht, du Blödmann.“, schimpft Martha halbherzig mit Sascha.
„Bist du gar nicht eifersüchtig, wenn deine Frau einen anderen Mann küßt?“, fragt mich Finchen.
„Nein. Nicht wegen einem freundschaftlichen Küßchen. Und schon gar nicht bei Sascha.“
Ich könnte Martha mit Sascha zusammengekuschelt im Bett schlafen lassen, ohne mir Sorgen zu machen.
Die Fotos sind übrigens phantastisch.
Martha und Josie ziehen sich gleich ihre Lieblingsbilder auf Sticks; Josie würde am liebsten sofort mit dem Album für uns loslegen und Martha will von einigen Bildern Vergrößerungen machen lassen, um sie zu rahmen und aufzuhängen.


Am nächsten Tag heißt es wieder arbeiten.
Martha und ich sind durchaus nicht immer ganz bei der Sache.
Zu neu ist es noch für uns, verheiratet zu sein.
Ich muß oft auf meinen Ehering sehen.
Und immer fühle ich mich dabei unheimlich glücklich.
Martha geht es genauso, das weiß ich.
Sie ist an diesem Tag sehr still. Aber umso mehr sagen ihre Blicke.
Und ich genieße die lautlose, aber absolut harmonische Verständigung mit ihr.
Am späten Vormittag kommt ein Bote, der einen großen, prächtigen Blumenstrauß überbringt.
Es ist eine Karte dabei: ‚Mit den allerherzlichsten Glückwünschen zur Hochzeit, Gerhard Mosch‘.
„Der alte Schleimer!“, rutscht es Martha raus.
Aber nett ist es doch und die Blumen machen sich sehr schön im Laden.
Sehr schön machen sich auch die gerahmten Vergrößerungen der Fotos, mit denen Martha unsere Wohnung schmückt.
Der Kuß nach der Trauung und wir beide draußen auf der Treppe vor dem Standesamt, uns glücklich anlächelnd …
An dem Rahmen des einen Bildes befestigt Martha ihren Laub-Schmuck, den sie im Haar getragen hat.


In dieser Woche gehe ich wieder zu Frau Sonnabend.
Sie fragt, wie die Feier war und ich berichte ein wenig davon.
Ich erwähne auch, wie lieb mir Marthas Eltern geworden sind. Frau Sonnabend muß ich nicht erklären, daß Peter und Gisela kein Ersatz für meine Eltern werden können.
Aber meine Therapeutin versteht genau, daß die Liebe und das Vertrauen der beiden Bedürfnisse stillen, die ich lange Zeit unterdrückt habe und die, bei aller Liebe für mich, auch Martha nicht erfüllen kann.
Dann fragt sie, ob ich was von meinem Onkel gehört habe. Was ich leider verneinen muß. Aber so eine Suche kann dauern. Und ich werde die Hoffnung nicht aufgeben. Immerhin habe ich auch keine Nachricht erhalten, daß Onkel Branko verstorben ist.


Wie schnell die Zeit vergeht, merken wir an Denise‘ Schwangerschaft.
Mir war nicht bewußt, daß sie schon gegen Ende des dritten Monats war, als Martha und ich geheiratet haben. Zumal man ja noch nichts sieht und Denise, sofern ihr mal nicht gut sein sollte, sich das nach wie vor nicht anmerken läßt.
Nun, wo bei uns wieder Ruhe einkehrt … jedenfalls, soweit das bei einem so chaotischen Haufen wie uns möglich ist – schmieden auch Denise und Sascha Pläne für die Zukunft.
Sie möchten auf jeden Fall noch dieses Jahr heiraten.
„Uns wäre zwar eine andere Jahreszeit lieber. Aber unser Kind soll ehelich auf die Welt kommen, schon allein, um zu vermeiden, daß ich die Vaterschaft anerkennen muß.“
„Müßtest du das denn?“ Ich kenne mich da nicht aus.
„Ja. Wenn unser Kind in der Ehe zur Welt kommt, bin ich vor dem Gesetz automatisch der Vater. Deswegen konnte ich damals bei meiner Tochter auch nichts machen. Sabine und ich waren nicht verheiratet, deshalb hatte ich keine Rechte an der Kleinen. Das wird mir bei Denise alles nicht passieren, aber wenn man rechtzeitig verhindern kann, weitere Formulare ausfüllen zu müssen …“ Sascha lacht.
„Was ist eigentlich bei dir mit Einbürgerung?“
„Hm ja, hab ich auch schon drüber nachgedacht. Ich hab nur zwei kleine Vorstrafen wegen Diebstahl, müßten eigentlich inzwischen auch aus dem Strafregister raus sein.“
„Klär das. Dann beantragen wir die Einbürgerung gemeinsam.“
„Okay. Bei mir wär’s zwar nicht so umständlich mit dem Heiraten wie bei dir, weil Kroatien schon in der EU ist. Aber warum nicht? Ist ‚ne einmalige Sache.“
Eine Woche darauf sind wir bei der Ausländerbehörde.
Man kann uns zwar keine Hoffnungen auf eine schnelle Bearbeitung machen, da derzeit sehr viele Anträge eingehen würden. Aber Probleme werde es keine geben.
Das ist doch schon mal was.
Da Sascha kein Risiko eingehen will, kümmert er sich zusätzlich um die nötigen Papiere, um auch als noch-kroatischer Staatsangehöriger heiraten zu können.
Bei Sascha dauert das ähnlich lang wie bei mir, nämlich etwa drei Wochen.
Und so beantragen er und Denise in der letzten Oktoberwoche ihre Eheschließung.
Am Freitag, den 20. Dezember werden die beiden heiraten.
Wir alle freuen uns sehr für die beiden.


Zwei Tage, nachdem unsere Freunde ihren Hochzeitstermin bekommen haben, sind Charlie Schneider und Elisabeth von Lahnstein bei uns zu Gast.
Beim gemeinsamen Kaffeeklatsch fällt dann der endgültige Entschluß, den Laden in Potsdam zu übernehmen.
Ein Bekannter Glorias ist Steuerberater, er hat die Konditionen geprüft und gemeint, das könnten wir ruhig machen.
Ich finde die Sache eigentlich auch gut. Denn Marthas Ideen wachsen sich immer mehr aus.
Just gerade kommen sie und die beiden Damen darauf, daß sich sexy Unterwäsche für Schwangere doch auch sehr gut neben den Dessous und den Babysachen machen würde.
Ich verdrehe wieder einmal die Augen, freue mich aber andererseits über Marthas Begeisterung.
Außerdem stürzt sie sich wahrlich nicht unüberlegt in irgendwelche waghalsigen Unternehmungen.
Und so gebe ich meinen Segen. Wird schon schiefgehen.
Wir beschließen dann noch, daß wir die Kollektionen strikt aufteilen. Hier in Berlin: Meine Kollektionen und Marthas Accessoires. In Potsdam: Dessous, Babymode und die neuen Umstands-Dessous.
Denise bietet sich lachend als Model für Letztere an. „Ich werd‘ die bald gut gebrauchen können.“
Sascha leckt sich gedankenverloren über die Lippen; es ist klar, was grade in seinem Kopfkino abgeht.
Dann fahren Martha und ich mit Elisabeth und Charlie nach Potsdam, um uns mit der Besitzerin unseres neuen Ladens zu treffen.
Ich habe einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich das Geschäftliche den drei Frauen überlasse. Eigentlich bin ich nur zur Deko mit, denke ich.
Aber die drei können sowas einfach besser als ich. Martha kann ich absolut vertrauen und was die beiden Damen angeht – wenn Martha ihnen vertraut, tue ich das auch.
Eine Stunde später ist alles geregelt.
Das Personal, also die beiden Verkäuferinnen, werden wir übernehmen.
Elisabeth wird sich um das Vertragliche kümmern. Oder kümmern lassen.
Am Laden selbst muß nichts getan werden, außer ihn innen zu streichen.
Das wird Sascha sicher gerne machen, meint Martha.
Und Denise sich um das Ladenschild kümmern, ergänzt sie.
Bevor wir nach Berlin zurückfahren, machen wir mit unseren Gästen noch einen Ausflug zum Schloß Sanssouci und gehen dort im Park spazieren.
Martha fragt, warum wir noch nie hier waren.
Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht.
Dabei gibt es hier soviel zu sehen.
Wir bleiben, solange es geht. Was Martha so gar nicht reicht. Aber ich verspreche ihr, daß wir mal einen Wochenend-Ausflug hierher machen werden, ganz romantisch mit Übernachtung. Da strahlt sie. Und ich muß sie küssen.


Wieder zuhause stürzt sie sich gleich auf Sascha, der sie lachend auf die Stirn küßt und versucht, den Redeschwall zu unterbrechen, denn er versteht wohl nur die Hälfte.
Natürlich streicht er unseren neuen Laden, das sei selbstverständlich, meint er.
Danach saust Martha zu Denise, um ihr alles zu erzählen.
Später, nach Ladenschluß, sitzen unsere beiden Süßen über einem Haufen Entwürfe.
Ich linse ihnen kurz über die Schulter und sehe, daß Martha anscheinend einen unerschöpflichen Vorrat an Ideen für Babysachen hat.
Sie merkt gar nicht, daß ich hinter ihr stehe, bis Denise sie auf mich aufmerksam macht.
Da steht sie gleich auf, legt mir ihre Arme um den Hals.
„Du mußt sagen, wenn ich dich vernachlässige. Es ist nur … ich hab so viele tolle Ideen und …“
Als ob ich nicht wüßte, wie das ist. Und daß man es nutzen muß, so im ‚flow‘ zu sein.
Ich küsse sie zärtlich, sage ihr, daß alles okay ist und ich mich für sie freue, daß es so gut läuft.
Strahlend beugt sie sich wieder über ihre Entwürfe.


Eine Woche später ist unser Potsdamer Laden soweit, unter unserem Namen neu eröffnet zu werden.
Wir machen kein großes Aufhebens darum. Denise hat sich um die Homepage und Flyer gekümmert und zur Eröffnung gibt es nur Sekt und Orangensaft.
Und dennoch scheint es, als ob die Umgestaltung und das neue Sortiment gut angenommen werden. Jedenfalls ist der Laden den ganzen Tag über gut besucht und es sind einige Kunden dabei, die schon unseren Berliner Laden kennen und nun neugierig auf den neuen waren.
Denise macht auf Marthas Bitte hin Fotos vom frisch gestrichenen Innenraum und der Eröffnungsfeier, die meine Süße Elisabeth und Charlie schicken will.
Martha hat übrigens Mosch eingeladen, damit der sich nicht wieder übergangen fühlt. Aber als er hört, daß in unserem neuen Laden neben den schon bekannten Dessous nur Babysachen und Unterwäsche für Schwangere angeboten werden, tut er so, als ob er gerade feststellen würde, er hätte doch leider keine Zeit.
Martha meint, er hätte schlecht geschauspielert, aber es ist uns ganz recht, daß er nicht kommt.


Anfang November erhalte ich eine Nachricht von der serbischen Botschaft.
Man sei noch „dran“ an der Ermittlung meines Onkels. Da man aber in Zagreb beginnen müsse und Zagreb kroatisches Staatsgebiet sei, würden die Ermittlungen halt etwas länger dauern.
Was man genau damit meint, weiß ich nicht. Schmeißen die Kroaten den Serben bürokratische Steine in den Weg oder was?
Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Noch nicht.
Und zwei Wochen später meldet sich das Rote Kreuz.
Sie haben zwei Branko Zdravkovic gefunden, die am 12. August 1949 geboren sind und 1992 in Zagreb gelebt haben. Einer der beiden ist vor zwei Jahren gestorben.
Der andere lebt immer noch in Zagreb.
Bitte, bitte, laß es Onkel Branko sein!
Obwohl mir bewußt war, daß er durchaus inzwischen gestorben sein könnte, habe ich jetzt auf einmal große Angst, daß er wirklich tot ist.
Und ich mich nicht mit ihm aussprechen kann.
Ihn nie mehr wiedersehe.
Voller Angst und Hoffnung zugleich frage ich bei der Einwohnerbehörde in Zagreb nach früheren Adressen jenes Branko Zdravkovic nach.
Zum Glück muß ich nur eine Gebühr bezahlen und kann dann die gewünschte Auskunft erhalten.
Als die Antwort eintrifft, wird mir flau.
Ich setze mich und rufe nach Martha.
Zeige ihr wortlos den Umschlag.
Und sie setzt sich neben mich, legt ihren Arm um mich, während ich mit zitternden Händen den Umschlag öffne …



Kapitel 44

Ich starre auf das amtliche Papier.
Es scheint nur aus Buchstabensalat zu bestehen.
Mit klopfendem Herzen suche ich zwischen all den Zeilen und Buchstaben etwas Vertrautes.
Und da …
Ich erkenne bekannte Wörter.
Den Namen der Straße, in der Onkel Branko damals gewohnt hat.
Ich lasse das Papier sinken, wische mir die Augen.
„Und?“, fragt Martha leise.
Ich nicke ihr zu, bringe ein Lächeln zustande.
Und Martha drückt meine Hand, die den Brief noch festhält.
Onkel Branko lebt!

Ich bin einerseits erleichtert, ja glücklich.
Und andererseits befällt mich Angst.
Was, wenn er nichts mehr von mir wissen will?
Ich vertraue mich Martha an.
„Ehrlich gesagt, hätte ich genauso Angst wie du. Ich denke, das Beste ist, wenn du ganz offen bist. Schreib ihm! Und schreib ihm, daß du Angst hast. Schreib ihm, wie du dich fühlst.“
Martha hat Recht.
Aber ich tue mich schwer damit.
Gefühle in Worte auszudrücken, ist nicht meine Stärke. Und sie dazu noch schriftlich zu formulieren …
Es geht mir wie damals, als ich nach passenden Worten für Marthas Preisverleihung suchte.
Bald schon bin ich schweißgebadet und alles um mich herum voll zerknülltem Papier.
Bis ich endlich finde, daß meine Worte das ausdrücken, was ich wirklich fühle.
Lieber Onkel Branko!
Ich habe dich gesucht, weil ich dich wiedersehen will.
Mit dir reden, dich in den Arm nehmen.
Viel zu viel Zeit ist schon vergangen.
Weil ich mich vor der Vergangenheit verschlossen habe.
Ich will mit dir das Grab meiner Eltern besuchen.
Du sollst mich an die Hand nehmen wie damals.
Sicher habe ich dir sehr weh damit getan, einfach abgehauen zu sein.
Aber ich hoffe, du weist den verlorenen Sohn nicht zurück, der heimkehren will.
Dein Juri
Ich zeige meine Zeilen Martha.
Als sie mir den Brief zurückreicht, sehe ich, daß sie weint. Aber sie nickt und ich verstehe, es ist gut so.
Meine Hände zittern, als ich den Umschlag mit dem Brief in den Postkasten werfe.
Und nun beginnt die bange Zeit des Wartens …

Es ist gut, daß wir reichlich zu tun haben.
Ich stürze mich auf meine Entwürfe für die nächste Kollektion, die ich auf dem Fashion-Day in München Anfang Dezember präsentieren möchte.
Nebenbei helfe ich Martha, ihre erste Babymode-Präsentation vorzubereiten.
Sie hat wirklich phantastische Ideen. Sie designt zum Beispiel besondere Accessoires für die Babysachen, die man mit Klett-Band befestigen kann. Oder anknöpfen.
Denise ist überzeugt, daß Marthas Sachen Mütter aller Altersklassen begeistern werden.
„Und? Meinst du, es gefällt deinem Baby auch?“, frage ich und deute auf ihren Bauch.
„Ach, denkst du, es könnte sich vor den anderen Babys schämen?“, kichert sie. „Ich denke, es wird einmal zu schätzen wissen, daß die Designerin dieser Babymode keine Klischees verarbeitet und es deshalb kein hellblau für Jungs und rosa für Mädels gibt.“
„Es gibt ja wirklich genug andere schöne und fröhliche Farben.“, meint Martha engagiert.
Ich fühle mich unverstanden. „Ich … äh, hatte das scherzhaft gefragt. Ich finde das toll, was ihr macht. Und die Sachen sind … süß.“
„Hey, das wissen wir doch.“ Martha ist aufgestanden und küßt mich zärtlich.

Nach wie vor gehe ich mit Sascha zweimal die Woche zum Boxen. Die Gespräche vor und nach dem Training drehen sich jetzt oft um Denise und das Baby.
Es liegt sehr viel Liebe und Zärtlichkeit in Saschas Stimme, wenn er über seine kleine Familie redet, finde ich.
Er begleitet Denise auch zu jeder Untersuchung.
Heute zeigt er mir ein neues Ultraschallbild.
Sehr viel erkenne ich nicht darauf. Erst, als Sascha mir erklärt, wo was von dem Kleinen zu sehen ist.
„Mädel oder Bub?“, frage ich.
„Wir wollen uns überraschen lassen.“
„Was wär dir denn lieber?“
„Was alle Eltern wollen – Hauptsache, gesund.“
„Sorry. War ‚ne dumme Frage.“
„Find ich gar nicht. … Was hättest du denn lieber? Einen Jungen oder ein Mädchen?“
Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Noch ist ein Kind bei Martha und mir auch nicht Thema. Aber Saschas Frage läßt mich nun doch darüber nachdenken.
„Vielleicht ist ein Junge unkomplizierter?“, spreche ich laut aus, was mir grade durch den Kopf geht.
„Du meinst, von der Erziehung her? Weiß nicht. Glaub ich aber nicht. Heutzutage gibt’s ja auch nicht mehr diese Unterschiede, was Hobbys und Sport angeht. Muß also nicht sein, daß deine Tochter nur mit Puppen spielen will. Vielleicht geht sie eines Tages mit dir in den Boxclub.“
„Du kommst auf Ideen!“ Unwillkürlich sehe ich eine kleine Martha vor mir, die temperamentvoll auf einen Sandsack einschlägt.
Ich schüttele den Kopf. Das paßt nicht.
„Und sollte es ein Junge werden, wird er vielleicht Ballett-Tänzer.“, kichert Sascha.
Ich werfe ihm einen mißmutigen Blick zu.
Aber dann muß ich lachen. Das sind doch alles ungelegte Eier. Eine Familie zu gründen, soweit sind Martha und ich noch nicht.
Warum sich also jetzt schon den Kopf zerbrechen, was unser Kind mal für Hobbys oder Berufswünsche haben sollte?
Was immer passiert, es geht eh nicht nur mich an.

Der Dezember beginnt genauso arbeitsam wie der November ausklang.
Wir haben wirklich richtig gut zu tun und die Arbeit schleifen lassen, geht echt nicht. Das würde sich schnell bitter rächen. Dafür haben wir aber auch absolut keine Geldsorgen.
Die eigene Buchführung haben wir aufgegeben.
Martha fehlt die Zeit dafür; auch trotz Denise‘ Hilfe ist es einfach zuviel geworden.
Glorias Bekannter erledigt das nun für uns.
Das, was er dafür nimmt, tut uns finanziell nicht weh und Martha und Denise können sich nun wieder ganz kreativen Dingen zuwenden und brauchen keine Zahlen mehr zu dressieren.
„Es hat mir zwar nicht soooviel ausgemacht, aber ich bin auch ganz froh, diesen Job los zu sein. Ich mein, neben meinen Accessoires und den Dessous jetzt noch die Babysachen – damit bin ich voll ausgelastet.“
„Übernimm dich nicht, ja? Ich find’s toll, daß du so motiviert und voller Ideen bist und ich weiß, es macht dir Spaß. Aber trotzdem … ich … ich will mir keine Sorgen um dich machen müssen.“
„Ich paß auf mich auf, versprochen. Und wenn wir den Fashion-Day nächste Woche hinter uns haben – wir wär’s denn dann mit einem Wochenende in Potsdam?“
Als Antwort küsse ich sie zärtlich und greife dann zum Telefon, um uns ein gemütliches kleines Hotel zu suchen.

Und das „Ich möchte gerne für meine Frau und mich ein Zimmer buchen.“ genieße ich sehr.
Neben all dem habe ich mir selbst noch die Aufgabe zugedacht, für Denise ein Hochzeitskleid zu designen.
Das heißt, sie möchte kein Kleid, sondern eine Art Kostüm.
Das ist schon eine Herausforderung für mich.
Denn Denise und ich müssen ein wenig rätseln, wie ihre Maße in drei Wochen sein werden.
„Ich werde jeden Tag runder.“, seufzt sie.
Das stimmt eigentlich gar nicht, noch nicht zumindest, aber ich bin sicher, sie sieht auch mit Babybauch hübsch aus.
Sie trägt meist lange Röcke und lockere Pullis, die ihren Bauch kaschieren und ihr sehr gut stehen.
Sowas in der Art möchte sie auch für ihre Hochzeit.
Ich kreiere ihr ein langes, weich fallendes Kleid mit einem Jäckchen im Bolero-Stil dazu.
Und wir entscheiden uns für weinroten Wollstoff. Wolle ist warm und der Farbton paßt zu Weihnachten.
Während Denise mit mir und meinem Entwurf zufrieden ist, hat Sascha richtig Kummer mit seiner Garderobe.
Er würde sich gerne wie ich auf meiner Hochzeit tragen, aber dafür ist nicht die Jahreszeit.
Wir überlegen und überlegen und Sascha, der sonst immer so cool ist, ist der Verzweiflung nahe.
Bis mir einfällt, daß er durchaus Hemd und Weste tragen kann. Und darüber einen warmen Ledermantel.
So ein Teil sieht elegant aus, ist aber nicht so nobel, daß es nicht zu Sascha passen würde.
Als ich ihm sowas zeige, hellt sich seine Miene gleich auf.
Freilich müssen wir ihm einen gebrauchten erstehen, den ich dann ein wenig juri-like aufpeppe, wie Sascha es formuliert.

Aber wir arbeiten nicht nur viel, wir haben auch Spaß und eine schöne Zeit.
Es ist wieder Advent und als Martha beginnt, Laden und Wohnung weihnachtlich zu schmücken, frage ich: „Backen wir wieder?“
Meine Frau grinst mich an. „So wie letztes Jahr, ja?“
„Hätte nichts dagegen.“, grinse ich zurück.
Wir backen dann auch wirklich zusammen. Allerdings nicht nackt. Dafür mit Sascha und Denise und das macht auch Spaß, wenn auch anderen.
Jedenfalls albern wir herum, lachen viel und selbst das Spülen und Aufräumen macht so Laune.
Hinterher sitzen wir gemütlich bei Kerzenschein zusammen, trinken was Warmes und probieren unsere Plätzchen.
Und ich werde dieses Jahr aufpassen, Sascha nicht unter den heimtückischen Misteln zu begegnen.

Den Fashion Day in München bringen wir auch gut hinter uns.
Sascha absolviert hier seinen vorerst letzten Auftritt als Model.
Er sagt, bis Denise die Geburt hinter sich hat und aus dem Gröbsten raus ist, möchte er sie nicht für ein ganzes Wochenende allein lassen.
Zumal ja Martha und ich auch nicht da sein würden.
Finchen paßt zwar gut auf unsere werdende Mama auf, aber ich verstehe Sascha, daß er einfach bei Denise bleiben will.
Aber der Ersatz muß uns keinen Kummer machen. Glorias Agentur wird uns jemanden besorgen. Und vorerst finden eh keine solchen Veranstaltungen statt. Im Winter ruht auch die Modewelt.
Finanziell ist dieser Fashion-Day wieder ein Erfolg.
Mosch schleimt wie gewohnt. Und kauft wie gewohnt.

Ich bin so beschäftigt, daß ich nur hin und wieder an Onkel Branko denke, aber wenn, dann zieht sich alles in mir zusammen.
Es war richtig, ihm zu schreiben.
Aber ich habe Angst vor den Konsequenzen.
Frau Sonnabend lobt mich dafür, daß ich trotz dieser Angst die Konsequenzen nicht scheue.
Und sie hat Recht – ich laufe wirklich nicht mehr weg.
Martha ist immer für mich da.
Sie spürt, wenn ich Kummer habe.
Ohne viele Worte schmiegt sie sich dann tröstend an mich und ihr stilles Verständnis sorgt dafür, daß es mir gleich ein wenig besser geht.

Unser Wochenende in Potsdam wird wunderschön.
Tagsüber durchstreifen wir den Park und erkunden alles, was es da zu sehen gibt. Und das ist eine Menge.
Martha kommt aus dem „Oooh, ist das schön!“ gar nicht mehr raus angesichts der herrlichen alten Gebäude.
Wenn wir spätnachmittags in unser Hotel zurückkehren, sind wir von der vielen frischen Luft müde.
Aber glücklich und zufrieden.
Und die Taschen voller Ideen für unsere Arbeit.
Wir genießen das leckere Essen und das gemütliche Ambiente, eine ausgiebige gemeinsame Dusche und uns dann entspannt unter die warmen Decken zu kuscheln.
Am Sonntag, unserem letzten Urlaubstag, kommen auch Sascha und Denise.
Wir halten einen lustigen Kaffeeklatsch zusammen und fahren nach einem schönen, langen Spaziergang gemeinsam nach Hause.

Am dritten Advent-Wochenende bin ich alleine.
Martha fährt nach Hamburg, um dort auf einer Rund-ums-Baby-Messe ihre neue Babymode zu präsentieren.
Denise will mit, entscheidet sich aber Saschas Bedenken zuliebe dagegen.
Ich will auch mit. Martha meint aber, es sei nicht okay, Sascha und Denise den Laden zu überlassen, zumal Denise jetzt im sechsten Monat sei. Letztlich sei es unser Laden. Das sehe ich auch ein.
Dafür fährt nun Sascha mit nach Hamburg.
Bevor die beiden losfahren, lachen wir alle darüber, daß das ja eine eigenartige Konstellation ist - meine Frau fährt mit meinem besten Freund nach Hamburg und ich bleibe mit seiner schwangeren Freundin zuhause.
Josie hilft mir tagsüber im Laden und Denise bekocht uns.
Am Abend sitze ich mit Denise in unserem Wohnzimmer. Ich trinke mir einen Wein, Denise warmen Kinderpunsch. Dazu knabbern wir Plätzchen, unterhalten uns über die bevorstehende Hochzeit und telefonieren natürlich mit Martha und Sascha, die den ersten von zwei Messetagen gut hinter sich gebracht haben und nun in der Hotel-Lobby entspannen.
Marthas Babysachen kommen phantastisch an, erzählt Sascha begeistert, während Martha im Hintergrund meint, er übertreibe. Aber meine Frau ist sicher wieder nur zu bescheiden, denke ich.
„Und was macht ihr so?“, fragt meine Süße.
Wir hatten ausgemacht, daß Denise hier übernachten wird. Dann sind wir beide nicht alleine.
„Wir vernichten gemeinsam die Keksvorräte.“, knurpse ich Martha ins Ohr.
„Freßsack! Krümel nicht alles voll, ja? Und laß mir welche von den Walnußplätzchen übrig.“
Das verspreche ich hoch und heilig.
Nach dem Telefongespräch versinke ich in Gedanken, ohne es zu merken.
Bis Denise mich anstupst und fragt, ob alles okay ist.
„Vermißt du Martha?“
„Ja. … Ja, schon. … Ist aber nicht so schlimm.“
Denise legt ihren Arm um mich. „Wir armes Strohwitwer-Pärchen, wir. … Ey, nicht boxen, du Lümmel!“
„Was?“
„Ach, das Kleine kickt um sich. Wahrscheinlich ist ihm langweilig.“, lacht Denise.
„Oder es merkt, daß sein Vater nicht da ist? Nicht, daß ich der Grund bin, warum es unruhig ist.“
„Quatsch. Es kennt deine Stimme genau. Du gehörst zu seinem kleinen Universum dazu.“
Das ist eine ganz neue, ungewohnte Vorstellung für mich.
Ich sehe auf Denise‘ rundlichen Bauch und kann nicht recht glauben, daß das kleine Menschlein da drin weiß, wer ich bin.
Denise sieht mich an. Dann nimmt sie meine Hand und legt sie auf ihren Bauch.
„Und? Spürst du es?“
Ja, das tue ich. Da bewegt sich wirklich etwas unter meiner Hand.
„Sprich mit ihm.“
„Was soll ich denn sagen?“
„Das ist egal. Deine Worte versteht es natürlich noch nicht. Aber deine Stimmung kommt bei ihm an. Ob du fröhlich oder traurig bist. Ruhig oder aufgeregt. Es wird auf dich reagieren, du wirst sehen.“
Das kann ich nicht so recht glauben.
„Hey, du kleiner Racker! Halt doch mal still, damit deine Mami ein bisschen Ruhe bekommt. Sie ist müde.“
Als ich merke, wie meine Hand sanft Denise‘ Bauch streichelt, sehe ich sie entschuldigend an. „Ich …“
„Hey, das ist okay.“, meint sie lächelnd.
Und fragt mich, ob ich gemerkt hätte, wie liebevoll und zärtlich ich mit ihrem Kind geredet hätte.
„Hab ich das?“, frage ich verblüfft.
„Ja, hast du. Und merkst du was? Das Kleine ist still. Ich glaube, durch deine sanfte Stimme und das sachte Streicheln ist es eingeschlafen.“
Ich sehe sie wieder an, ungläubig, erstaunt. Und ganz eigenartig berührt.
Sollte das wirklich wahr sein, daß dieses kleine Wesen da in Denise‘ Bauch mich kennt und sich von mir beruhigen läßt?
Denise nimmt lächelnd meine Hand in ihre und drückt sie.
„Genauso geht es Sascha auch immer.“
Sie scheint genau zu wissen, was ich fühle.
Wobei ich das selber nicht wirklich weiß.
Nur daß es ein unheimlich schönes Gefühl ist.
Ich wünschte, Martha wäre jetzt hier …
Als ich ihr später davon erzähle, sagt sie nichts, lächelt nur. Und küßt mich zärtlich.

Und dann ist der neunzehnte Dezember da, der Tag vor Saschas und Denise‘ Hochzeit.
Obwohl ich gerne an meine eigene Hochzeit zurückdenke, bin ich doch froh, diesmal nicht Hauptperson, sondern nur Trauzeuge und bester Freund zu sein.
Denise und ich freuen uns, daß ihr Kostüm paßt. Und Martha ist begeistert.
Während unsere Mädels bei uns zuhause aufräumen, fahre ich mit Sascha zum Bahnhof, um Denise‘ Eltern und ihre kleine Schwester abzuholen.
Jochen und Bärbel sind nett, aber ich denke, ich verstehe, warum Sascha bei ihnen kleine Anlaufschwierigkeiten hatte.
Sie scheinen ein bisschen unflexibel gegenüber Neuerungen zu sein.
Mir gegenüber sind sie freundlich, aber zurückhaltend.
Sascha tuschelt mir zu, sie bräuchten einfach eine gewisse Zeit, um aufzutauen.
Von meiner Martha sind die beiden aber gleich sehr angetan und freuen sich offenbar darüber, daß ihre Tochter in meiner Frau eine so gute Freundin gefunden hat.
Auch mit Finchen kommen sie prima aus.
Am Abend sitze ich eine Weile mit Sascha zusammen, während Martha mit Denise und ihren Eltern plaudert.
„Und? Wie fühlst du dich?“, frage ich meinen Freund. „Keine kalten Füße?“
„Überhaupt nicht.“, lacht er.
„Ab morgen hast du eine eigene kleine Familie.“
„Ja. Das ist irre schön, das hab ich immer haben wollen. Aber eine Familie hab ich auch jetzt schon. Denise, Martha und du, ihr seid meine Familie. … Ja und du auch.“, spricht Sascha zu Carlo, der uns schon eine Weile beobachtet.
Dann springt er elegant zu uns hoch … und mir genau in die Weichteile.
„Uiui!“, japse ich. „Carlo, du kleiner Trampel!“
Ich bin drauf und dran, ihn runterzuschubsen, als er sich auf meinen noch leicht schmerzenden Kronjuwelen genüßlich schnurrend zusammenrollt, mir zublinzelt – zumindest bilde ich mir das ein – und dann die Augen schließt.
Mir tränen noch die Augen, aber ich bringe es nicht mehr fertig, ihm böse zu sein.
„Das kannst du später mal brauchen.“, meint Sascha.
„Was?“
„Na, dich beherrschen, auch wenn du sauer bist. Muß man bei Kindern ebenso wie bei Tieren.“
Ich brauche eine Weile, um zu kapieren, was er meint. Aber dann ist es mir klar. Mein eigenes Kind schelten, weil es mir versehentlich und ohne böse Absicht in die Eier boxt? Ganz sicher nicht!

Sascha und Denise werden heute und morgen bei uns wohnen, während Denise‘ Eltern in ihrer Wohnung übernachten werden, zusammen mit Denise‘ kleiner Schwester Silvia und einer ihrer Tanten namens Elvira.
Sascha steckt mir, daß er froh ist, mit Elvira nicht unter einem Dach zu wohnen und ich merke bald, wieso.
Sie ist immer irgendwie am Sticheln und Stänkern.
Denise‘ Hochzeitskleid müsse weiß sein und Saschas Ledermantel sähe aus wie vom Flohmarkt. Aber immerhin würde er die häßlichen Tattoos überdecken.
Ich glaube, von Martha und mir hält sie auch nicht viel.
„Warum ausgerechnet die mitgekommen ist, ist mir ein Rätsel. Da hat Denise‘ nettere Tanten, glaube ich.“ Sascha verdreht leicht angenervt die Augen.
Denise meint: „Ignoriert die alte Schreckschraube einfach. Die ist nur hier, weil sie auf gar keinen Fall was verpassen will. Nicht, weil sie mich so gern hat und mir mein Glück gönnt.“

Dann ist auch für unsere beiden Freunde der große Augenblick da.
Denise sieht wunderschön aus in ihrem weinroten Kostüm.
Und Sascha macht auch eine gute Figur.
Ich beobachte ihn; er wirkt ungewohnt ernst und würdevoll. Aber es ist ja auch ein besonderer Moment für ihn.
Martha steht neben mir, hält meine Hand und als unsere Freunde sich das Ja-Wort gegeben haben und sich küssen, drückt sie sie ganz fest.
„Das ist so schön.“, schnuffelt sie.
Ich ziehe sie dicht an mich, drücke ihr einen Kuß auf die Stirn und empfinde das ganz genauso.
Und freue mich riesig, Sascha einige Augenblicke später lange zu umarmen und ihm alles, alles Gute zu wünschen.
„Auch wenn du nicht heulst … danke!“, meint er gerührt.
Ich küsse ihn auf beide Wangen und schiebe ihn dann Martha zu, die ihn busselt und knuddelt, während ich bei Denise behutsamer ans Werk gehe.

Es ist gut, daß Janines Freundin Natalie wieder Fotos macht, denn Sascha und Denise sind ein sehr malerisches Paar, das bestimmt toll auf Fotos aussieht.
Gefeiert wird beim Mexikaner, der einen großen Partysaal hat.
Es sind ziemlich viele Leute anwesend, denn Denise‘ Familie ist groß und sie hat auch etliche Freunde.
Aber sie meint, es wäre absolut okay, wenn wir unter uns blieben, denn mit den meisten Gästen würden wir eh nie wieder zu tun haben.
Mir ist das sehr recht und Martha ist auch nicht wild auf neue Bekanntschaften.
Wir stoßen mit Sljivo auf das Brautpaar an und widmen uns dann dem leckeren Buffet.
Später sitzen wir mit Josie und Janine zusammen, während Sascha und Denise sich um ihre übrigen Gäste kümmern.
Als bekannte Balkanrhythmen ertönen, fordert mich Martha fröhlich zum Tanzen auf und ich folge meiner Frau lächelnd durch die Menge.
Ich bin in diesem Moment irgendwie besonders stolz darauf, ihr Mann zu sein.

Später ruft Dana an und möchte unseren Freunden gerne gratulieren.
Das ist echt nett von ihr und Sascha und Denise freuen sich auch sehr.
Und dann ist der Trubel vorbei.
Tante Elvira abgereist.
Als auch Denise‘ Eltern und ihre Schwester im Zug sitzen, atmen selbst unsere Freunde auf.
„Es war schön, aber ich bin auch froh, es hinter mir zu haben.“ Denise atmet laut schnaufend aus.
„Aber gelohnt hat es sich. So viele Babysachen.“, grinst Sascha.
In der Tat hat fast jeder irgendwas für den Nachwuchs geschenkt.
Aber unseren Freunden ist das recht. Babysachen sind meist teuer.
Martha hat ihnen einen Gutschein geschenkt. Sie wird das Kleine die ersten drei Jahre aus eigenen Entwürfen einkleiden, ganz nach dem Geschmack der Eltern.
Ich habe es mir einfacher gemacht. Obwohl ich selber nicht so für Gekauftes bin … aber die beiden haben keine gescheite Kamera und die brauchen sie wirklich, wenn das Baby da ist.
Und anscheinend habe ich das Richtige getroffen, die beiden freuen sich sehr.


Dann ist Heiligmorgen.
Ich schärfe Carlo ein, er solle seine Pfoten vom Baum und seiner Deko lassen. Ich kann mir nämlich inzwischen lebhaft vorstellen, wieviel Spaß so ein Katzentier daran hat, einen Weihnachtsbaum leerzuräumen.
Den Baum haben wir am Vorabend zu viert geschmückt. Ganz wie im letzten Jahr mit Tannenzapfen und Strohsternen, Äpfeln und Lebkuchen.
Und uns an das Baumdesaster vom letzten Weihnachten erinnert und viel gelacht.
„Ihr habt vielleicht ausgesehen.“, hat Martha gestern geprustet.
Und ich gebrummt: „Das Ding hat gelebt.“
Wir sitzen noch beim Frühstück, als Sascha und Denise kommen.
„Post für dich.“, meint Sascha und reicht mir einen Brief.
Ich verstehe nicht, warum er mich so komisch ansieht, bis ich bemerke, daß der Brief nicht in Deutschland abgestempelt wurde.
Sondern in Zagreb.


Kapitel 45

Mir ist gleichzeitig heiß und kalt.
Mein Blick wandert über die Buchstaben auf der Vorderseite … mein Name, meine Adresse … in einer Handschrift, die ungeübt wirkt …
Onkel Branko!
Mein Herz klopft mir bis in den Hals.
Martha weiß gleich Bescheid. Sie rückt dicht an mich heran, legt mir ihre Hand auf den Arm, der den Brief hält.
Ich sehe sie an, sie nickt mir ernst zu.
Ich bin hin und hergerissen zwischen dem brennenden Wunsch, zu erfahren, was in dem Brief steht und der Angst davor.
Meine Hände zittern, als ich den Umschlag öffne.
Langsam falte ich den Brief auseinander.
Hole tief Luft.
Und fange an zu lesen.
Mein lieber Juri!
Verzeih mir, daß ich so lange gebraucht habe, um zu antworten.
Aber ich brauchte Zeit, um nachzudenken.
Es stimmt, es hat mich sehr verletzt, daß du einfach so gegangen bist.
Du bist der Sohn meiner Schwester; das Einzige, was mir von ihr geblieben war.
Aber ich kann deinen Schmerz verstehen.
Und daß du einfach alles hinter dir lassen wolltest.
Und ich weiß auch, wie schwer es ist, nach so langen Jahren den Kontakt wieder aufzunehmen.
Umso dankbarer bin ich, daß du den Mut dazu gefunden hast.
Es bedeutet mir viel, daß du mich nicht vergessen hast.
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen.
Aber einen Neuanfang machen.
Ich warte auf dich, mein Junge.
Dein Onkel Branko
Ich lasse den Brief sinken, lege meinen Kopf auf die Arme, weine lautlos.
Ich bin sooo erleichtert, daß er mich nicht haßt, daß er mir nicht geschrieben hat, daß er nichts mehr von mir wissen will, daß er mir nicht verzeihen kann …
Ich spüre, wie Martha ihren Arm um meine Schultern legt.
„Juri …“
Aus ihrer Stimme höre ich Sorge.
Und dann wird mir bewußt, daß sie und Sascha mein Verhalten möglicherweise falsch deuten.
Ich hebe den Kopf, sehe beide an. „Alles gut.“
Dann wische ich mir die Tränen weg und reiche Martha lächelnd den Brief.
„Darf ich?“, fragt Sascha leise.
„‘türlich.“
Er und auch Denise stehen auf und lesen, über Marthas Schulter gebeugt, mit.
Ich bin aufgestanden und sehe aus dem Fenster.
Es schneit.
Es wird eine weiße Weihnacht geben.
Alles sieht so friedlich aus.
Friedlich wird es grad auch in mir.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter.
Sascha.
Eine ganze Weile stehen wir so da.
Ich muß nichts sagen.
Er wird wissen, was grade in mir vorgeht.
„Gib Bescheid, wann du nach Zagreb willst.“, meint er schließlich.
Bald, denke ich.

„Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hättest du gar nicht bekommen können.“, meint Martha später zu mir.
Das stimmt.
Ich bin sehr still an diesem Tag.
Aber meine Frau und meine Freunde verstehen das.
Und wissen, daß ich sie trotz meiner Schweigsamkeit um mich haben möchte.
Es wird ein sehr schöner Heiligabend.
Sascha und Martha haben gekocht.
Nach dem Essen machen wir vier einen langen Spaziergang.
Und dann sitzen wir vor dem Baum.
Auch die anderen werden nach und nach still, hängen ihren Gedanken nach.
Denise hat ihren Kopf in Saschas Schoß gelegt, er streichelt ihren Bauch und flüstert ihr glücklich lächelnd ins Ohr.
Martha hat sich an mich gekuschelt, es ist schön, sie so nah und warm zu spüren.
Und ich fühle mich glücklich und … unbeschwert.

Am ersten Weihnachtstag frühstücken wir gemeinsam und ausgiebig.
Danach haben Sascha und Denise Lust auf einen Spaziergang zu zweit.
Und Martha hängt sich ans Telefon, um ihre Eltern und Dana anzurufen.
Ich greife auch nach meinem Handy.
Und wähle ziemlich aufgeregt die Nummer, die Onkel Branko in seinem Brief angegeben hat.
Als er sich nach einer gefühlten Ewigkeit meldet, sage ich erst mal gar nichts.
Zu sehr berührt es mich, seine Stimme zu hören.
Ganz abgesehen davon, daß ich mir kein bisschen überlegt habe, was ich sagen will.
„Juri?“, fragt die Stimme. „Bist du es, mein Junge?“
„Ja. … Ja, Onkel Branko.“
Und im Bruchteil einer Sekunde bin ich wieder der kleine Junge, der seinen geliebten Onkel besucht.
Auch Onkel Branko sagt eine ganze Weile gar nichts.
„Ich … dein Brief … Gott, ich bin so froh!“, bricht es plötzlich aus mir heraus.
„Ich auch, mein Junge, ich auch.“
Und dann fange ich an, zu reden.
Erzähle ihm alles.
Was damals in mir vorging.
Wie ich versucht habe, alles zu verdrängen.
Mir hier, in Deutschland, ein neues Leben aufgebaut habe.
Oder das zumindest geglaubt habe.
Onkel Branko ist erschüttert, als ich von meinen jahrelangen Schuldgefühlen erzähle.
Daß ich mir die Schuld am Tod meiner Eltern gegeben habe.
Daß ich keine Nähe zulassen konnte.
Und nur scheinbar glücklich war.
In Wirklichkeit sehr einsam.
Ich erzähle von Martha.
Wie sie mich verändert hat.
Mein ganzes Leben.
Daß ich es ihr zu verdanken habe, wieder zu wissen, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein.
Ich erzähle auch von Sascha. Und seinem Vater.
Von meiner Therapie.
Onkel Branko meint, er sei sehr froh, daß ich meinen Rachegedanken nicht in die Tat umsetzen konnte, denn das hätte meinen Eltern, die sehr friedliebende Menschen gewesen seien, nicht gefallen.
Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich darüber nie nachgedacht habe.
Und dann erzählt auch Onkel Branko.
Wie er sich nach dem Krieg durchgeschlagen hat.
Wie er lernte, mit dem Verlust von Schwester und Schwager zu leben.
Und dem seines Neffen.
Wie oft er sich gefragt hat, was aus mir geworden ist.
Sich Sorgen gemacht hat, ob es mir wohl gut geht.
Und irgendwann die Hoffnung aufgab, je wieder von mir zu hören.
Aber aufgehört, mich zu lieben, habe er nie.
Auch nicht dann, wenn er mir stille Vorwürfe machte, ihn so allein zu lassen.
Wir reden fast drei Stunden miteinander.
Als ich mich schließlich schweren Herzens von ihm verabschiede, tue ich das mit dem Versprechen, ihn so bald wie möglich zu besuchen.
Mit Martha und Sascha, die er sehr gerne kennenlernen möchte.

Als ich in unser Wohnzimmer hinübergehe, habe ich das Gefühl, ein Stück über dem Boden zu schweben, so leicht ist mir zumute.
Martha, Sascha und Denise sitzen zusammen und sehen gleich auf, als ich reinkomme.
Mein glückliches Lächeln sagt ihnen erstmal genug.
Martha sagt, sie hat gegen Mittag nach mir gesehen; ich habe das nicht mitbekommen.
„Hast du Hunger? Dann mach ich dir dein Essen warm.“
Ich nicke, ziehe sie an mich, lasse meinen Kopf auf ihre Schulter sinken und schließe die Augen.
Eine ganze Weile stehen wir so da. Bis mein Magenknurren Martha alarmiert. Und sie sich von mir losmacht, um in die Küche zu flitzen.
Ich setze mich zu Sascha und Denise.
Sascha lächelt mich an. „Ich freu mich für dich.“
„Danke.“
Auch wenn es nun nur Aufgewärmtes für mich gibt, so richtet Martha es doch liebevoll für mich an.
Hinterher serviert sie mir einen Kaffee; neben der Tasse liegt ein Marzipanherz.
Es sind nur Kleinigkeiten, aber ihr macht es große Freude, mich mit solchen Sachen zu verwöhnen.
Sie ist so eine Liebe, Süße!
Und sie ist meine Frau!
Bevor ich mich meinem Kaffee widme, ziehe ich sie zu einem langen, zärtlichen Kuß auf meinen Schoß.
Und dann erzähle ich vom Gespräch mit Onkel Branko.
Als ich geendet habe, fragt Martha: „Du möchtest sicher bald hin, hm?“
„Ja.“
„Wir könnten den Laden nach Neujahr für eine Woche zumachen.“, meint sie.
Das könnten wir.
„Mir wäre es auch recht, wenn wir bald fahren würden. Weißt ja, wegen Denise.“
„Also, noch dauert es ein bisschen.“, lacht diese. „Ich bin für den vierundzwanzigsten März ausgezählt, das sind noch drei Monate.“
„Ich weiß. Aber …“ Sascha kommt nicht dazu, weiterzureden, denn Denise stoppt ihn mit einem zärtlichen Kuß.
„Paß auf! Ich habe gar nichts dagegen, für ein paar Tage zu meinen Eltern zu fahren. Also könnt ihr ruhig nach Neujahr fahren, wenn das Juris Onkel recht ist.“ Denise sieht erst Sascha, dann mich aufmunternd an.
Wir nicken beide.
Und Martha checkt gleich, ob etwas Wichtiges ansteht und ob wir das zwischen den Feiertagen erledigen können.
Glücklicherweise gibt es keine Hindernisse.
Und so rufe ich Onkel Branko an diesem Abend noch an, um ihm mitzuteilen, daß wir gleich nach Neujahr kommen würden, wenn es ihm recht wäre.
„Das ist mir sehr recht. Ich kann euch zwar keine luxuriöse Unterkunft bieten, aber unterbringen könnte ich euch schon für ein paar Tage. Aber vielleicht mögt ihr lieber in ein Hotel gehen?“
Ich schüttele den Kopf, kapiere, daß Onkel Branko das ja nicht sehen kann und meine: „Ich möchte gerne bei dir bleiben. Und weder Martha noch Sascha sind sehr verwöhnt.“
„Schön, dann kommt ihr also alle drei zu mir. Ich freu mich. Wie kommt ihr denn her?“
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.
Ich überlege kurz.
Fliegen geht schnell. Aber vielleicht zu schnell. Ich habe so das Gefühl, daß ich mich erst langsam darauf einlassen muß, die Heimat wiederzusehen.
Mit dem Auto ist es zu weit. Auch wenn Sascha und ich uns beim Fahren abwechseln würden, wäre das sehr anstrengend.
Dann fällt mir die Bahn ein. Warum nicht mit dem Zug fahren? Das ist ganz bequem und aus dem Fenster heraus die Landschaft zu sehen, wird mich langsam auf die Heimat einstimmen.
Kurzentschlossen sage ich also Onkel Branko, daß wir mit dem Zug kommen werden.
„Schön. Dann gib mir Bescheid, wann ihr ankommt, dann hol ich euch ab.“
 
Als Martha und ich an diesem Abend im Bett liegen, meint Martha: „Ich … hab dir eine Weile zugehört, als du mit deinem Onkel gesprochen hast. Ihr habt serbisch geredet, nicht?“
„Serbo-kroatisch. Ich kenn mich da auch nicht so aus, aber serbisch und kroatisch sind sich wohl sehr ähnlich.“
„Es klingt … schön. … Dein Onkel spricht kein Deutsch, denke ich.“
„Doch, ziemlich gut sogar. Damals zumindest. Seine Frau war Deutsche.“
„Echt?“
„Ja. Sie hieß Susanne. Sie ist nur sehr früh gestorben. Aber ich mochte sie. Und sie hat so viel von ihrer Heimat erzählt, daß für mich klar war, wohin ich gehen würde. Was Onkel Branko angeht, so weiß ich nicht, wie gut sein Deutsch noch ist. Aber ihr werdet euch schon verstehen.“

Gleich nach den Weihnachtsfeiertagen erkundigt sich Martha nach den Zugverbindungen.
Und meint dann: „Also, eine Direktverbindung Berlin-Zagreb gibt es nicht. Mir müssen nach Frankfurt. Oder direkt nach München. Stellt sich die Frage, ob wir von hier aus mit dem Zug fahren und in Frankfurt oder München umsteigen oder eventuell nach München fliegen. Das würde auf jeden Fall Zeit sparen, denn die Fahrt von München nach Zagreb dauert ungefähr neun Stunden.“
Ich überlege kurz. „Die Strecke von hier nach München interessiert mich nicht. Wir fliegen.“, sage ich.
Bald sind wir uns darüber einig, daß wir drei Tage bei Onkel Branko bleiben wollen. Er versichert zwar, wir dürften gerne länger bleiben, aber wir drei entscheiden, daß wir lieber ein andermal wiederkommen, statt ihn gleich beim ersten Besuch so zu beanspruchen.
Am zweiten Januar wird es losgehen.

Zwischen den Feiertagen erledigen wir Einkäufe und sorgen dafür, daß auch sonst alles soweit erledigt ist, damit wir möglichst wenig aufzuarbeiten haben, wenn wir wiederkommen.
Silvester wollen wir so verbringen wie letztes Jahr.
Gemütliches Beisammensein bei uns.
Josie, Janine und Karin sagen gerne zu, Gloria ist bereits woanders eingeladen. Finchen ist eh mit von der Partie.
Als Martha an diesem Tag mit Sascha vom Einkaufen kommt, reicht sie mir ein großes Päckchen. Es scheint ein Buch zu sein. Neugierig wickle ich es aus.
Ein Bildband über Zagreb.
„Ich dachte …“, meint Martha.
Ich lege das Buch kurz beiseite, ziehe meine liebe Frau an mich und küsse sie innig.
Dann setze ich mich mit dem Buch hin und bin bald auf einer bewegenden Reise in meine Kindheit. Denn das Buch beinhaltet auch viele Bilder von früher.
Als die Einkäufe verstaut sind, fragt Sascha, ob er sich zu mir setzen darf.
Was für eine Frage! Es ist auch seine Heimat.
Martha kocht für uns. Nur ungern legen wir das Buch beiseite.
Aber nach dem Essen macht Martha Kaffee und nun sitzen wir alle vier vor dem Buch und Sascha und ich erzählen.
Bis in den späten Nachmittag sitzen wir da. Bis es klingelt und Josie und Janine erscheinen.
Bald sind wir vollzählig, inclusive Carlo, und lassen es uns gutgehen.
Während unserer Abwesenheit wird sich Finchen um den Kater kümmern.
Und Josie bietet sich an, nach der Post zu schauen und allgemein nach dem Rechten.
Das Jahr, das grad zuende geht, hat Grund genug geboten, es zu feiern.
Viel Schönes ist passiert.
Und wir waren mit unserem Laden ganz erfolgreich.
Als Mitternacht da ist, ziehen Martha und ich uns in eine Ecke zurück, um einen Moment für uns zu sein.
Wir wünschen uns leise alles Gute für’s neue Jahr und halten uns einfach in den Armen.
Sascha und Denise haben es ebenso gemacht, erfahren wir später.
Dann stoßen wir alle gemeinsam auf ein ebenso glückliches und erfolgreiches neues Jahr an.

Den Neujahrstag verbringen Martha und ich mit Sascha und Denise.
Wir kochen gemeinsam, gehen spazieren.
Nachmittags lädt uns Finchen zum Kaffee ein.
Danach sitzen Sascha und ich gemütlich bei einem Schluck Sljivo zusammen, während unsere Süßen sich mit Marthas Babysachen beschäftigen.
Auch bei Sascha und mir ist der Nachwuchs Thema.
„Irgendwie meine ich, die Schwangerschaft macht Denise noch hübscher als sie ist.“, sage ich.
„Das finde ich auch.“ Sascha wirft seiner Frau einen verliebten Blick zu.
„Freilich muß ich ihr das mindestens einmal täglich sagen, sonst meint sie, sie wäre häßlich und nicht mehr attraktiv und ich würde nur noch aus Gewohnheit mit ihr schlafen.“
„So ein Blödsinn!“
„Sag ich ja! Aber dann ist sie wieder ganz normal, entschuldigt sich für ihre Stimmungsschwankungen und ihr dummes Geschwätz und alles ist wieder gut.“
„Ganz schön anstrengend für euch beide, diese Schwangerschaft, hm?“
„Na ja. Aber vor allem ist es schön. Ein wundervolles Gefühl, abends mit ihr im Bett zu liegen, ihr meine Hand auf den Bauch zu legen und zu spüren, daß da noch jemand ist. Denise meint, daß das Kleine weiß, daß wir jetzt ins Bett gehen und sich nun auch bequem zurechtkuschelt.“ Sascha greift lächelnd nach seinem Glas. „Das ist eine unheimlich schöne Vorstellung.“
Ich erinnere mich an den Moment, wo Denise meine Hand auf ihren Bauch legte und ich spüren konnte, wie das Baby sich bewegte.
Und kann verstehen, daß Sascha, der immerhin der Vater ist, das sehr berührt.
„Habt ihr eigentlich schon Namen ausgesucht?“
„Wir haben uns ein paar überlegt. Aber entscheiden werden wir uns erst nach der Geburt."
„Warum?“
„Na ja, es könnte doch sein … daß wir unser Kind ansehen und finden, daß der ausgesuchte Name nicht paßt. Weißt du, so aus dem Gefühl heraus.“
Ich denke, ich weiß, was er meint.

Am zweiten Januar macht sich Martha ans Packen.
„Also, unser Hochzeitsfotoalbum nehmen wir auf jeden Fall mit. Das ist so schön geworden.“
Das stimmt. Josie hat das so liebevoll designt.
Der Pappeinband ist mit Stoff bespannt und zwar aus den Resten von Marthas Hochzeitskleid. Was beim Zuschneiden so angefallen ist.
Zwischen die Fotos hat sie kleine Zeichnungen und Sprüche eingestreut. Und Gloria eine Blume aus Marthas Brautstrauß abgeschwatzt.
„Was ist mit deinem Koffer?“, fragt Martha.
„Meinen Erinnerungen aus Jugoslawien, die Fotos und so?“
„Ja.“
Ich überlege kurz, dann hole ich ihn und stelle ihn zu unserem Gepäck.

Und dann ist es soweit.
Wir bringen Denise zum Zug, bestellen liebe Grüße an ihre Eltern und drücken sie lange.
Dann fahren wir zurück nach Hause, holen unsere Sachen und fahren zum Flughafen.
Schnell haben wir eingecheckt.
Während wir auf unseren Aufruf warten, telefoniert Martha noch einmal mit ihren Eltern. Auch ich spreche kurz mit ihnen; sie wünschen mir beide alles Gute.
„Wir denken an dich.“, meint Gisela.
Der Flug nach München dauert nur etwa eineinviertel Stunde.
Unsere Wartezeit auf den Zug nach Zagreb verbringen wir in einem gemütlichen Café.
Wir sind alle etwas unruhig. Auch Sascha wird nach langen Jahren das erste Mal die Heimat wiedersehen.
Dann geht es los, wir sitzen im Zug und der rollt an.
Heimat, ich komme …


Kapitel 46

Die Strecke bis zur österreichischen Grenze und dann bis zur slowenischen interessiert mich nicht so, obwohl sie landschaftlich sehr schön ist.
Ich sehe still aus dem Fenster und hänge meinen Gedanken nach.
Frage mich, wie es Onkel Branko grad so geht, der weiß, daß wir nun zu ihm unterwegs sind.
Martha hält meine Hand in ihrer; sie und Sascha unterhalten sich leise; ich merke, die beiden wollen mich nicht stören.

Wir sind sicher schon einige Stunden unterwegs, als Sascha meint: „Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich hab Hunger. Was dagegen, wenn wir mal den Speisewagen aufsuchen?“
„Nö, gar nicht.“, antwortet Martha lachend.
Ich bin nicht so hungrig, aber ein Kaffee wär jetzt nicht schlecht.
Und so sitzen wir wenige Minuten später an einem Tisch im Speisewagen.
Sascha und Martha studieren die Karte, während ich wieder aus dem Fenster sehe.
„Die haben hier kroatische Spezialitäten, oder?“, fragt Martha.
„Sieht ganz so aus.“, grinst Sascha.
„Hier gibt’s sogar Ražnjići! … Sind aber sicher nicht so gut wie deine.“
„Können wir ja probieren.“
„Kannst du mir was empfehlen?“
„Was ist mit den Sarma? Krautwickel? Total lecker.“
„Sowas wie unsere Kohlrouladen? Ja, warum nicht.“
Die Unterhaltung der beiden läßt mich nun doch hungrig werden, stelle ich fest.
„Laß uns doch jeder was anderes bestellen und dann teilen wir.“, schlägt Sascha vor.
Kurz darauf futtern wir uns durch Sarma, Ražnjići und Djuvec und gönnen uns zum Nachtisch auch noch Palačinke und Čupavci.
„War das lecker! … Aber ich bin sowas von träge jetzt.“, meint Martha und gähnt.
„Hm, ‚ne Runde Pennen wär nicht schlecht.“, seufzt Sascha.
„Können wir doch. Na ja, so’n bisschen zusammengekringelt auf unseren Sitzen halt.“
Ich glaube nicht, daß ich schlafen kann, will den beiden aber gerne die Ruhe gönnen.
Da ich auf einen zweiten Kaffee verzichte … schlafe ich dann doch für eine kleine Weile ein, als wir wieder in unserem Abteil sind - mit Martha im Arm.

Dann sind wir in Slowenien, welches damals noch zu Jugoslawien gehörte.
Und ich werde mit jedem Kilometer daran erinnert, wie schön meine Heimat doch ist.
Zwar sind wir noch ein gutes Stück von Zagreb entfernt. Und doch …
Die sich langsam verändernde Bodenformation und Vegetation … das alles wirkt vertraut.
Sascha, der mir gegenüber sitzt, scheint es ähnlich zu gehen, denn auch er schaut schweigend aus dem Zugfenster und an seiner Mimik sehe ich, wie bewegt er ist.
Martha blättert leise in einem Reiseführer, um sich über unser Land schlau zu machen.
Jugoslawien war schon vor dem Balkan-Krieg ein beliebtes Reiseziel und hatte eine Menge zu bieten.
Unsere Heimatstadt Zagreb liegt nicht wirklich auf dem Balkan, dazu müßten wir noch ein wenig weiter südlich fahren. Aber eine abwechslungsreiche Landschaft gibt es hier doch – Berge, wunderschöne Seen und viel Grün.
Das Klima in der pannonischen Tiefebene, in der Zagreb liegt, ist gemäßigt und die Winter nicht so hart wie weiter oben auf dem Balkan. Weil Ausnahmen bekanntlich die Regel bestätigen, hat sich aber doch immer wieder einer der gefürchteten Balkan-Winter hinunter in die Ebene von Zagreb verirrt.
Ich lege meinen Arm um Martha und sie lehnt sich an mich.
Ich sehe ihr an, sie möchte mich so manches fragen, aber sie läßt mir die Ruhe, die ich gerade brauche.
Es ist Sascha, der als Erster das Schweigen bricht.
„Man könnt‘ fast meinen, die Zeit wär hier stillgestanden. Hat sich kaum was verändert.“
Es ist immer noch sehr ländlich, das stimmt.
Bei näherem Hinsehen fällt dann doch auf, daß sich was geändert hat.
Auch hier kann man von der Landwirtschaft alleine nicht mehr leben. Viele Landwirte haben sich ein zweites Standbein im Tourismus aufgebaut. Reiten, Kutschfahrten – dafür ist die herrliche Landschaft hier ideal.
Eigentlich bin ich froh, daß man nicht alles mit Fabriken zugepflastert hat, sondern versucht, meinem Heimatland seinen Charakter zu lassen.
Wein wird immer noch angebaut, wie ich sehe. Die hiesigen Weine sind wohl nicht weltberühmt, aber sehr gut und bestimmt eine sichere Einnahmequelle.
Martha hat sich wieder in dem Reiseführer vertieft.
„Euer Land bietet ja wirklich eine Menge.“, meint sie begeistert. „Hier gibt es gleich mehrere Naturparks sowie Pflanzen- und Vogelschutzgebiete. Und jede Menge historische Sehenswürdigkeiten.“
„Was hast du denn über unser Land gedacht? Daß das ‚ne schnarchlangweilige Einöde ist?“, lacht Sascha.
„Nein, natürlich nicht. Ich … ich hab mich nur bisher nicht mit der Geschichte eures Landes beschäftigt. Und jetzt, wo ich das hier lese … finde ich es schade, daß wir nur ein paar Tage hier sind und keine Zeit haben werden, uns das alles in Ruhe anzusehen.“
„Wir können ja später mal Urlaub hier machen. Bildungsurlaub.“, schlägt Sascha vor.
„Das wär toll.“

Der Zug hält in Ljubljana, der Hauptstadt von Slowenien. Hier ist ein kurzer Aufenthalt vorgesehen.
Wir drei steigen aus, um uns ein wenig die Beine zu vertreten.
Martha legt ihre Arme um mich. „Alles okay mit dir?“
„Ja.“
„Nicht nervös?“
„Nein … nicht … nervös. Aber … das alles hier … spricht zu mir. Die Landschaft, die Leute, die Sprache …“
Ich war so lange weg und doch ist das alles ein Teil von mir geblieben. Ich hatte es lediglich verdrängt. Nun merke ich, wie sehr es mir gefehlt hat.
„Du kommst nach Hause.“
„Ja. Wobei … zuhause bin ich bei dir. Und ohne dich … könnte ich das hier nicht.“
Ich ziehe sie dicht an mich und schließe für eine Weile die Augen.
Dann ist es Zeit, wir steigen wieder ein.
Keine hundertfünfzig Kilometer mehr bis Zagreb …


Nun bin ich doch nervös.
Bald werde ich Onkel Branko gegenüberstehen.
Wieder frage ich mich, wie es ihm gerade geht. Ob er auch so nervös ist?
Wie er wohl heute aussehen mag? Ob ich ihn gleich erkenne?
„Was … was hat dein Onkel Branko eigentlich früher gearbeitet?“, fragt Martha.
„Hm?“ Ich bin noch ganz in Gedanken.
„Äh, er war Weber. Er hatte eine kleine Weberei.“
„Kleidung? Teppiche?“
„Beides. Das … äh, war kein schlechter Job. Kleidung wurde immer gebraucht. Ich glaube, er und Susanne konnten gut davon leben. Wie das heute ist … keine Ahnung, ich hab ihn noch nicht danach gefragt.“
„Ist sicher schwierig. Die Textilbranche ist eine riesige Industrie geworden. Maschinelle Fertigung im großen Stil, Billiglöhne und so weiter.“
Ich nicke nur.
„Ich hab gerne zugesehen, wenn er an seinem Webstuhl saß. Ich fand es faszinierend, wie nach und nach aus den vielen bunten Fäden ein erkennbares Muster wurde. Für mich war das damals ein bisschen wie Zauberei.“
Martha lächelt mir zu.
„Und es war so gemütlich bei ihm in der Weberei. Immer ein bisschen chaotisch. Hatte was von einem Dachboden voll altem Zeug. Ein Feuerchen im Kamin, Onkel Branko an seinem Webstuhl … und ich … das waren schöne Nachmittage, besonders im Winter.“ Ich merke, daß ich leise wehmütig seufze.

Als Martha meint, wir seien nur noch eine halbe Stunde von Zagreb entfernt, entschließen wir uns, noch einen Kaffee zu trinken, damit wir alle munter sind, wenn wir ankommen.
Martha hält die ganze Zeit meine Hand, sieht mich immer wieder an.
Ich sage nichts mehr, scheine meine Sprache verloren zu haben.
Ich fühle wieder ähnlich wie in dem Moment, bevor ich Onkel Brankos Brief geöffnet habe – einerseits habe ich Angst, andererseits kann ich es kaum erwarten.
Dabei ist die Angst unnötig – ich weiß, er wird mich mit offenen Armen empfangen.
Vielleicht ist es nur, weil ich mit ihm das erste Mal seit vielen Jahren einem leibhaftigen, lebendigen Teil meiner Vergangenheit begegne.
Und dann sind wir da!
Unser Zug hält in Zagreb, meiner Heimatstadt.
Wieder toben verschiedenste Gefühle in mir … ich möchte den Moment, Zagreber Boden zu berühren, noch hinauszögern und gleichzeitig möchte ich die Tür des Zugs aufreißen und rausspringen …
„Du hast ganz glänzende Augen.“, stellt Martha fest, die sich mein Gepäck greift und mich dann sanft am Arm nimmt.
Ich bin wohl irgendwie nicht ganz da.
Und habe keine Ahnung, wie ich auf den Bahnsteig gekommen bin.
Denn da stehe ich jetzt.
Plötzlich wird mir heiß und kalt gleichzeitig, ich habe das Gefühl einer aufsteigenden Panik.
Martha scheint das zu bemerken, denn sie nimmt meine Hand und hält mich fest.
Ich sehe ihr in die Augen … und dieses panikartige Gefühl verschwindet.
Wir drei stehen eng beisammen und blicken den Bahnsteig rauf und runter.
Nur langsam leert sich dieser.
Und dann …
„Juri, momče!“ Was soviel wie ’Juri, mein Junge!’ heißt.

Er steht vor mir.
Onkel Branko.
Mein Onkel Branko.
Mir ist klar, daß mehr als zwanzig Jahre ihn verändert haben müssen.
Objektiv betrachtet haben sie das auch.
Sein Haar ist grau, teilweise sogar schon weiß.
Sein Gesicht faltig, vom Leben gezeichnet.
Seine Gestalt leicht gebeugt.
Aber die Augen … die leuchten noch wie damals und als ich in diese Augen sehe … scheint die Zeit rückwärts zu laufen und ich bin wieder der kleine Junge von damals.
Ich möchte ihn begrüßen, schlucke und schlucke, aber bringe keinen Ton raus.
Wasser sammelt sich in meinen Augen.
Und als Onkel Branko mich an sich drückt, lasse ich die Tränen los …
Er riecht so vertraut …
Ich habe das Gefühl, als würde ich mich grade nach einem schönen Nachmittag in der Weberei von ihm verabschieden.
Onkel Branko murmelt Koseworte in meiner Heimatsprache, wieder und wieder, streichelt mir über den Kopf, drückt mich an sich.
Und ich begreife, wie sehr er mich immer noch liebt.
Und wie sehr er mich vermißt haben muß.
„Ich wollte dir nie weh tun.“, schluchze ich ihm ins Ohr.
„Das weiß ich, mein Junge. Es ist alles gut. Du bist da. Bist heimgekehrt.“
Ja, das bin ich.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da stehen und uns in den Armen halten.
Und ich weiß nicht, wer wen schließlich zuerst losläßt.
Dann aber sieht Onkel Branko interessiert zu Martha und Sascha, die etwas abseits von uns stehen.
Und sichtbar gerührt sind. Martha schneuzt sich gerade die Nase. Sascha blickt zu auffällig auf seine Füße, als daß ich nicht wüßte, daß er sich um Fassung bemüht.
„Ich … ich sollte … dich wohl mal vorstellen.“, stammele ich vor mich hin.
„Ja, mein Junge, mach das. Ich möchte deine Frau und deinen besten Freund kennenlernen.“
Onkel Branko greift nach meiner Hand und ich führe ihn hinüber zu den beiden.
„Also … das ist Martha, meine Frau.“
Onkel Branko sieht sie lange an. Sehr prüfend, wie ich finde.
Und dann lächelt er, umarmt sie, küßt sie auf beide Wangen.
„Danke! Danke, daß du meinen Juri zurück ins Leben geholt hast. Danke!“
Martha wird rot, sieht verlegen zu Boden und findet keine Worte. „Ich …“
Onkel Branko drückt sie nochmals an sich.
Dann ist Sascha an der Reihe.
Auch er wird prüfend betrachtet.
Sascha weiß, daß Onkel Branko Bescheid weiß … über ihn und seinen Vater.
Auch, daß mein Onkel ihm nicht nachträgt, was sein Vater getan hat.
Und doch … frage ich mich, was jetzt in ihnen beiden vorgeht, wo sie sich gegenüberstehen.
„Nicht vergessen, aber verzeihen, nicht wahr?“, meint Onkel Branko schließlich und lächelt Sascha an.
Der lächelt auch.
Und beide umarmen sich.
Dann stehen wir drei da, lächeln alle … und wissen nicht, was wir sagen sollen.
Irgendwann muß Sascha lachen.
Und Onkel Branko meint: „Ich bin ja ein toller Gastgeber. Lasse euch hier müde und vermutlich hungrig auf dem kalten, zugigen Bahnsteig rumstehen. Kommt, laßt uns gehen!“
Wir folgen Onkel Branko ins Innere des Bahnhofgebäudes.
Der Hauptbahnhof von Zagreb - Zagrebački Glavni Kolodvor in der Landessprache – ist noch genauso veraltet und ungemütlich, wie ich ihn in Erinnerung habe. Eigentlich ist es ein wunderschönes, altes Gebäude und von außen prächtig anzuschauen. Aber es scheint kein Interesse da zu sein, ihn zu pflegen. Oder kein Geld. Oder beides.
Martha sieht sich interessiert um, scheint den Bahnhof aber auch wenig anheimelnd zu finden.

Dann sind wir draußen. Ein schön angelegter, grüner Platz erstreckt sich vor uns, mit gepflegten Wegen.
Als wir den Vorplatz hinter uns lassen, kann ich nicht anders, als mich noch einmal umzudrehen und meinen Blick zum Bahnhofsgebäude wandern zu lassen. Von außen wirkt es wirklich prächtig, majestätisch …
Martha flüstert mir zu: „Der Bahnhof sieht von hier aus einfach wunderschön aus.“
„Das ist hier mit vielen Dingen so … von außen prächtig und wenn man näher hinsieht …“ Onkel Branko scheint Martha trotz ihres Flüsterns gehört zu haben.
Er führt uns in eine Seitenstraße, wo sein Wagen steht.
„Kann man keinen Staat mit machen, aber er wird uns zuverlässig zu mir nach Hause bringen.“
Als ich vorne einsteigen will, meint Onkel Branko lächelnd: „Du setzt dich mal schön neben deine Frau.“
Also setze ich mich mit Martha nach hinten, während Sascha vorne bei Onkel Branko Platz nimmt.

Bald schon sind wir am Ziel.
Onkel Branko wohnt in einem Mehrfamilienhaus in der Oberstadt, oberhalb des Dolac, des großen Gemüsemarktes von Zagreb.
„Ihr seht, ich lebe in recht einfachen Verhältnissen, aber ich hoffe, ihr werdet euch hier trotzdem wohl fühlen.“, meint Onkel Branko, als er uns in seine Wohnung führt.
„Ich finde es hier total gemütlich.“ Martha sieht sich strahlend um und da ich ihren Geschmack kenne, weiß ich, daß ihre Begeisterung echt ist.
Die Wohnung mag schlicht eingerichtet sein, aber man sieht, es ist ein Heim. Es wirkt sehr persönlich. Alles andere als zweckmäßig-steril.
Es erinnert mich ein wenig an die Weberei, wenn es hier auch ein wenig aufgeräumter und nicht so staubig ist.
„Wow! Was für eine tolle Aussicht!“ Martha steht am Wohnzimmerfenster und sieht hinaus.
Ich geselle mich zu ihr und stelle fest, daß man tatsächlich eine wunderbare Aussicht über den Markt und die Unterstadt hat.
Gerade geht die Sonne unter und taucht nach und nach alles in Schatten.
Und mit der untergehenden Sonne wird es auch still auf dem immer sehr belebten Markt.
Bilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei.
Wie oft bin ich auf diesem Markt gewesen, wo es alles gibt und man Freunde und Bekannte auf einen Schwatz treffen kann …
Das lebendige Treiben hatte für mich immer was von einem orientalischen Basar.
Und ich spüre, wie sehr ich meine Heimatstadt immer noch liebe …
Ohne daß ich es gemerkt habe, steht Onkel Branko neben mir, hat mir seine Hand auf die Schulter gelegt.
„Diese Stadt ist mehr als nur eine Stadt, eine Ansammlung von Straßen und Häusern. Sie hat ein Herz. Und das schlägt mit deinem zusammen. Hat es immer getan. Du hast es nur nicht mehr hören wollen. Weil es dir zu wehgetan hat.“
Ich nicke.
„Aber nun – ihr habt eine lange, anstrengende Reise hinter euch. Heute nur noch essen und schlafen, ja?“
Martha sieht ihn ein wenig enttäuscht an. Und Onkel Branko merkt das.
„Während wir essen, können wir uns natürlich schon ein wenig kennenlernen.“, sagt er lächelnd zu ihr.
„Ich glaube, er hat lediglich gemeint, daß er uns heute keine Städteführung mehr zumuten will.“, lacht Sascha.
„Du verstehst mich.“, grinst Onkel Branko.
Martha wird ein wenig rot. „Ich dachte … ich wollte nicht …“
„Ooooh, Martha, zlato moje, ich hab dich schon verstanden. Ich weiß, du willst alles erfahren, was mit deinem Juri zu tun hat.“
Martha wird noch etwas röter.
Mich fragt sie leise: „Was heißt ‚zlato moje‘?“
„‘Mein Schatz‘“, lächele ich und küsse sie zärtlich. „Er mag dich. Aber dich muß man auch einfach mögen.“
„Martha? Juri? … Hier, dies ist mein Schlafzimmer. Während ihr bei mir seid, ist es eures. … Nein, keine Widerrede, oder ihr verderbt es euch mit mir.“
Martha hatte in der Tat schon angesetzt, zu widersprechen, klappt aber ihren Mund nun wieder zu.
„Sascha, ich denke, ein Klapp-Bett ist in Ordnung für dich? Dann schlafe ich auf dem Sofa. Das bin ich gewohnt; ich schlafe dort öfter, wenn ich eingenickt und dann zu bequem bin, ins Schlafzimmer umzuziehen.“
Sascha nickt grinsend.
„Wenn ihr euch frisch machen möchtet – hier ist das Bad. … Ich mach uns mal einen Kaffee.“
„Sagen Sie mir, wo ich Tassen und so finde, dann decke ich den Tisch.“, bietet Sascha an.
„Das ‚Sie‘ läßt du mal gleich wieder weg, ja?“
„Okay.“
Ich lächele Sascha zu und er mir.
Dann folge ich Martha in Onkel Brankos Schlafzimmer, wo wir unsere wenigen Sachen auspacken.
Das alles hier fühlt sich so unwirklich an.
Ich habe das Gefühl, das alles zu träumen. Oder als einen Film zu erleben.
Ich bin in Zagreb.
Bei Onkel Branko.
Mit Martha. Und Sascha.
Als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre.
Ich setze mich auf’s Bett und schließe die Augen.
Höre Martha umherwuseln.
Spüre dann, wie sie sich neben mir auf’s Bett setzt.
Und ihren Arm um mich legt.
„Alles okay?“
„Ja. … Alles okay. … Nur … ich werd‘ ein wenig brauchen. Um hier anzukommen.“
Trotz der dürftigen Erklärung habe ich wieder das Gefühl, daß Martha ganz genau versteht, wie ich mich fühle.
„Ich geh kurz ins Bad. Dann hast du noch einen Moment Ruhe.“
Ich höre das Wasser im Bad rauschen, das Klappern von Geschirr und rieche auch bald den Duft von Kaffee.
Vertraute Dinge. Nur, daß sie in Zagreb passieren.

Kurz darauf sitzen wir im Wohnzimmer zusammen.
Der Kaffee tut gut.
„Hattet ihr denn eine angenehme Reise?“, fragt Onkel Branko.
Martha, Sascha und ich sehen uns an.
„Erzähl du.“, fordert Sascha Martha auf. „Du bist am besten im Reden.“
„Du meinst, ich rede sowieso immer und zuviel, ja?“, geht Martha auf Abwehr.
„Nein, so hab ich das nicht gemeint.“
„Aber gedacht.“
Ich sehe, wie Onkel Branko schmunzelt. Er nimmt einen Schluck aus seiner Tasse. Und meint dann zu mir: „Deine Frau und dein Freund … die sind goldrichtig.“
Ich habe schon früher Onkel Brankos Fähigkeit bewundert, anderen Menschen gleich ins Herz sehen zu können.
Er hat den ganzen Wahnsinn mit dem Krieg, das Anfeinden aufgrund verschiedener Religionen und Ideologien nie verstehen können.
Für ihn gilt der Mensch, das Individuum.
Martha und Sascha haben fertig gekabbelt und meine Süße meint nun: „Also, die Fahrt war wirklich schön. Wir haben echt viel von der schönen Landschaft gesehen. Und das Essen im Zug war lecker. Aber eine lange Reise war’s schon, auch wenn wir die schon abgekürzt haben, indem wir von Berlin nach München geflogen sind. Aber seit der slowenischen Grenze sind wir so langsam gefahren.“
„Ja, am Bahnnetz hapert es überall. Die alten Gleise machen aus jedem Schnellzug eine Bummelbahn.“, seufzt Onkel Branko.
„Aber für Juri war das, glaub ich, grad richtig so. Der wollte nicht so schnell hier ankommen. Das wäre für ihn … irgendwie zu abrupt gewesen. Ich mein‘ … das alles … kam doch letztlich sehr plötzlich. Soviele Jahre kein Kontakt … und jetzt … sitzen wir hier … Sie und er …“
„Martha, Engelchen, laß das ‚Sie‘, bitte! Ich bin auch für dich einfach Onkel Branko.“
Martha wird wieder rot.
Und sie ist so süß, wenn sie so verlegen ist.
„Oh … okay. Ich wollte nur nicht …“
„Du mußt dich nicht erklären. Ich kenn‘ dich schon ganz gut, glaub mir. Juris Liebe zu dir hat mir eine ganze Menge über dich verraten.“
Ich weiß nicht, ob sich Martha darauf einen Reim machen kann, aber sie lächelt Onkel Branko verlegen an.
„Wie sieht es aus? Wollen wir was essen gehen? Ich würde euch gerne in ein gemütliches, kleines Restaurant ganz in der Nähe einladen.“
Martha nickt nur.
Und mir ist alles recht.
Ich bin irgendwie müde und überdreht gleichzeitig.
Bekomme nur nebenbei mit, daß Sascha mir Grüße von Denise ausrichtet, der er natürlich Bescheid gegeben hat, daß wir gut angekommen sind.












Kapitel 47


Wir verlassen das Haus und spazieren durch kleine, enge Gassen bis zum Marktplatz.

Einige Standbetreiber sind noch beim Einpacken, aber die meisten der markanten roten Sonnenschirme sind schon zugeklappt.
An einem Stand bleibt Onkel Branko stehen.
„Weißt du noch, Juri? Julka, das Eichhörnchen?“
Oh ja, das weiß ich noch.
Martha sieht mich fragend an.
„Ich … war oft hier mit Onkel Branko. Hier gab es einen Stand mit Nüssen, Sämereien und Gewürzen. Milan, der Besitzer, hatte ein zahmes Eichhörnchen namens Julka.“
„Juri wollte immer Nüsse kaufen. Damit er das Eichhörnchen streicheln konnte.“
„Daher hast du deine Vorliebe für Nüsse.“, lacht Martha.
„Wahrscheinlich.“
Wir gehen weiter.
Bis wir vor einem Bistro stehen, dessen Biergarten von Buchsbaum eingefaßt ist. Darüber hängen orangerote Lampions.
„Das sieht aber gemütlich aus.“, meint Martha sofort.
„Wir sind hier bei Ilija, meinem Stammlokal. Kommt rein.“
Um draußen zu sitzen, ist es leider zu kalt.
Aber wir setzen uns an einen Tisch am Fenster und haben so den lampionbeschienenen Biergarten im Blick.
„Dobro vece, Branko! Du bringst Besuch mit?“
„Dobro vece, Ilija! Ja, das ist mein Neffe Juri, seine Frau Martha und sein bester Freund Sascha. Sie sind für ein paar Tage meine Gäste.“
„Dobrodosli! Was darf ich euch zu trinken bringen?“
Onkel Branko, Sascha und ich bestellen Wein, Martha ein Wasser.
„Wie sieht es mit eurem Appetit aus?“, fragt Onkel Branko.
„Also … eigentlich haben wir im Zug gut gegessen … vielleicht liegt es an der Aufregung … aber ich hätte schon … Hunger …“, meint Martha, wieder leicht verlegen.
„Nicht nur du.“, lacht Sascha.
„Was ist mit dir, Juri?“
„Doch, ja.“ Ich habe nicht drauf geachtet, ob ich Hunger habe oder nicht, da ich zu sehr von diesem Ort und seiner Atmosphäre gefangen bin.
Ich fühle mich fremd, weil ich so lange fort war und doch noch irgendwie heimisch.
Als ob ein Teil von mir Zagreb nie verlassen hätte.
Wahrscheinlich ist das auch so.
Bis unser Essen kommt, fragt Onkel Branko Martha nach unserem Leben in Berlin, dem Laden. Und meine Frau erzählt nur zu gerne. Bald schon hat sie wieder rote Backen vor Eifer. Und Onkel Brankos Herz im Sturm erobert.
Sascha und ich lächeln uns zu, wie wir das immer tun, wenn wir Martha beobachten und sie uns mit ihrer Art verzaubert.
Nach dem Essen fühle ich mich müde. Schlafen will ich noch nicht, aber die Augen zumachen und dem Gespräch lauschen.
Und das kann ich gut, denn nun fragt Martha Onkel Branko nach mir oder vielmehr nach meiner Kindheit mit ihm.
„Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Schwester Marija und ihrem Mann Rafailo, Juris Eltern. Er war Tischler und sie hat in einer Buchhandlung gearbeitet. Marija hatte eine Leidenschaft für Handarbeiten, sie hat für ihr Leben gern genäht, gestrickt. Oft haben wir gemeinsam am Webstuhl gesessen. Und gesungen. Juri hat das geliebt. Er hat dagesessen und zugesehen, zugehört. Seine Schulkameraden fanden das langweilig und haben ihn damit aufgezogen. Juri fühlte sich verletzt, hat sich aber, durch Marija und Rafailo ermutigt, nicht einreden lassen, daß er ein Weichling sei. Es war nicht leicht, dem jungen Juri zu erklären, daß wir Serben hier eine Minderheit sind, auf der man gerne herumhackte. Und dabei bildeten die Kinder keine Ausnahme. Kinder, deren verbohrte, uneinsichtige Eltern sie zur derselben Verbohrtheit und Uneinsichtigkeit erzogen.
Juri wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr zum Einzelgänger. Er hätte es leichter gehabt, wenn er sich angepaßt hätte. Aber das war nie sein Weg. Ich glaube, er war manchmal stolz darauf, anders zu sein.“
„Ich, äh … hatte eine glückliche Kindheit. Die besten Eltern und den besten Onkel der Welt.“
„Ach, Juri, mein Junge!“ Onkel Branko streicht mir über den Kopf. „Seine Eltern waren gute Menschen. Menschen ohne Vorurteile, offen und ehrlich. Mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Und so haben sie auch Juri erzogen. Schon als kleiner Junge mußte er dazwischengehen, wenn Schwächere unterdrückt wurden.“
Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl, Onkel Branko so über mich sprechen zu hören. All das ist nicht neu für mich, ich erinnere mich durchaus daran, wie ich als Kind war.
Aber die Liebe und der Stolz in Onkel Brankos Stimme …
Ich bin froh, Müdigkeit nicht nur vorschützen zu müssen; ich habe meine Augen geschlossen und sehe Martha vor mir, die an Onkel Brankos Lippen hängt und mehr hören will.
Irgendwann fordert Onkel Branko sie auf, zu erzählen, wie sie sich in mich verliebt hat.
Bald schon merke ich, wie ich lächle.
Sie schmückt unsere Geschichte sehr humorvoll aus, wenn sie auch immer bei der Wahrheit bleibt und nicht beschönigt, wie oft ich sie verletzt habe. Aber Onkel Branko kennt ja die Hintergründe, denn auch ich war in unserem Telefonat ehrlich zu ihm.

Unter anderem erwähnt Martha auch die Balkan-Disco, wo ich ihr das erste Mal von ihm erzählt habe. Und was er über den Sljivovic gesagt hat.
Mein Onkel bestellt sofort welchen und Martha bereitet ihm mit ihrem „Ziveli!“und daß sie den Göttern huldigt, große Freude und ebensolches Vergnügen.


Und dann kommt Onkel Branko auf Sascha und seinen Vater zu sprechen.

„Ich kann nicht mit Worten ausdrücken, wie glücklich ich darüber bin, daß ihr beide, du und Juri, euch getroffen habt. Mag es Schicksal sein oder nicht … es ist ein bedeutsamer Moment. Auch heute noch herrscht nicht wirklich Frieden und Einigkeit zwischen Serben und Kroaten, vielleicht wird das nie so sein. Aber ihr beide, ihr habt es geschafft. Ihr habt Frieden geschlossen, seid Brüder geworden. Im Herzen. Und das trotz eurer Vergangenheit. Eure Eltern können stolz auf euch sein. Ich kenne deine Eltern gut, Juri. Sie hätten Saschas Vater verziehen. Und sie hätten sich gewünscht, daß auch du es tust. Viel zu lange hast du den Haß auf ihn in dir getragen.“
Onkel Branko sieht mich ernst an. „Inzwischen weißt du – und das ist deiner wunderbaren Frau zu verdanken – daß deine Eltern nicht glücklich darüber gewesen wären, daß du mit diesem Haß und deinen Schuldgefühlen dir dein Lebensglück verwehrst. Dank Martha hast du den Schrank endlich verlassen und bist ins Leben zurückgekehrt. Und damit auch zu mir.“
Onkel Brankos Augen werden feucht.
Er zieht meinen Kopf zu sich heran, lehnt seine Stirn an meine.
Dann blickt er zu Martha. „Und es ist auch dein Verdienst, daß Juri und Sascha sich versöhnt haben, daß der alte Haß endgültig begraben ist. Djevojčica, ist dir bewußt, wieviel wir alle dir zu verdanken haben? Dich hat der Himmel gesandt!”
Martha wird so rot wie noch nie.
Umso mehr, als Onkel Branko nun aufsteht und sie auf die Stirn küßt.
Ich freue mich über diesen Liebesbeweis, weiß ich doch, wie Recht Onkel Branko hat.
Was wären wir alle ohne Martha?
Dann stoßen wir drei Männer auf meine immer noch ziemlich rote Frau an.
Die sich daraufhin entschuldigt, sie müsse zur Toilette.
Ich folge ihr kurz darauf und treffe sie im Waschraum.
Ziehe sie in meine Arme, sie schmiegt sich seufzend an mich.
„Das eben war dir aber nicht wirklich unangenehm, oder?“
„Nein. Nein, natürlich nicht. Aber …“
„Schhhhht.“ Ich küsse sie zärtlich.
Eine ganze Weile bleiben wir so stehen, sie an mich gelehnt, ich sanft ihren Nacken streichelnd …
Als wir an den Tisch zurückkehren, lächeln uns Sascha und Onkel Branko an,
Und für die kurze Zeit, die wir noch verweilen, werden keine emotionalen Themen mehr angerührt.
Dann schlendern wir langsam im Dunkeln zurück zu Onkel Brankos Wohnung.
Trinken noch einen Tee zusammen.
Und gehen dann ins Bett.
Schön warm an meine Frau gekuschelt kann ich auch tatsächlich gleich einschlafen …


Am nächsten Morgen muß ich allerdings erst mal meine Gedanken sortieren.

Es ist gestern so unglaublich viel auf mich eingestürmt.
Die Fahrt, Zagreb, meine Heimatstadt … und Onkel Branko.
Ich kann es nicht recht fassen, daß er wirklich im Zimmer nebenan ist.
Daß ich hier mit Martha in seinem Bett liege.
Meine einzigartige, wunderbare Frau wird gerade wach.
Kuschelt sich behaglich an mich und murmelt: „Sind wir wirklich in Zagreb? Bei deinem Onkel?“
„Mmhh.“
„Wahnsinn.“
Ich küsse sie auf die Stirn und gebe mich wieder meinen Gedanken hin.
Was mögen die nächsten beiden Tage mir, uns bringen?
Auf jeden Fall möchte ich das Grab meiner Eltern besuchen.
Ich denke, mit Martha, Sascha und Onkel Branko an meiner Seite, werde ich die Kraft dazu haben …


Ich bin wohl nochmal eingeschlummert.

Als ich aufwache, sehe ich, daß Martha mich lächelnd beobachtet.
„Ausgeschlafen?“
Ich nicke.
„Sascha und dein Onkel sind schon auf.“
Dann sollten wir wohl auch mal aufstehen.
„Willst du zuerst ins Bad? Dann würd‘ ich schauen, ob ich was helfen kann, Frühstück machen oder so.“
Wieder nicke ich.
An der Badezimmertür begegne ich Sascha.
„Morgen, Alter! Alles okay mit dir?“
Auch ihm nicke ich zu.
Während ich dusche, höre ich ihn und Martha lachen.
Vor mich hin lächelnd trockne ich mich ab; freue mich, daß es den beiden offenbar richtig gut geht.
Dann ziehe ich mich rasch an und gehe in die Küche hinüber.
„Dobro jutro, Juri!“, begrüßt mich Onkel Branko und küßt mich auf die Wange. „Gut geschlafen?“
„Ja, danke.“
„Frühstück ist gleich fertig – dein Engel von einer Frau hat mir fast alle Arbeit abgenommen.“
„Na, wenn wir uns schon hier einnisten, werden wir uns nicht auch noch bedienen lassen, soweit kommt’s noch!“, meint Martha entschieden. „Ich geh dann auch eben ins Bad, ja?“
Wir drei sehen ihr nach, wie sie in ihrem Schlafanzug aus der Küche huscht.
„Deine Martha … ist ein Goldstück.“
„Ich weiß.“, sage ich und lächele bestimmt ganz besonders glücklich.


Wir frühstücken ganz gemütlich und Onkel Branko erzählt nebenbei, wie sein Alltag aussieht.

Er arbeite als Verkäufer in einem Blumengeschäft und verdiene sich mit der Weberei soviel dazu, daß es zum Leben lange.
„Die Arbeit in dem Blumenladen ist gar nicht so schlecht. Pflanzen sind wie Tiere geduldige Zuhörer. Aber ich habe auch gerne mit Menschen zu tun und Menschen, die Pflanzen lieben, sind meist keine schlechten Menschen.“
Ob er denn allein lebe, fragt Martha leise.
„Du willst wissen, ob ich eine Frau habe? … Nein, seit meine Susanne gestorben ist … Aber ich habe eine gute Freundin, eine sehr gute Freundin. Mit ihr kann ich über alles reden. Wenn ihr möchtet, könnt ihr sie kennenlernen. Sie jedenfalls würde dich, Juri, sehr gern kennenlernen.“
Martha nickt sofort und ich wüßte auch nicht, was ich dagegen haben sollte.


Während Martha und Sascha den Tisch abräumen, nimmt mich Onkel Branko kurz zur Seite.

„Juri, mein Junge … ich weiß nicht … der Besuch des Grabes deiner Eltern … ob du das noch hinausschieben willst … oder eher schnell hinter dich bringen …“ Er sieht mich liebevoll-besorgt an.
„Das … äh … weiß ich selber nicht so genau.“
Ich möchte hin, das weiß ich. Aber – jetzt? Oder morgen?
„Ich … habe einen kleinen Kranz gemacht. Dachte, du möchtest sicher nicht mit leeren Händen kommen.“
Wie lieb von ihm! „Nein, das … möchte ich wirklich nicht. … Vielleicht gehen wir … heute Nachmittag? Ich … würde gerne vorher … ein bisschen was … von Zagreb sehen.“
„Gerne, mein Junge.“
Ich frage mich, ob das Haus meiner Eltern noch steht.
Ich werde Onkel Branko danach fragen. Später.


Kurz darauf sind wir unterwegs.
Der Himmel ist klar und es ist kalt.
Ich lege meinen Arm um Martha.
Meine Frau gesteht, so gut wie nichts über Zagreb zu wissen „Also, nur das aus dem Bildband.“ und Onkel Branko meint, daß er sehr gerne den Reiseführer spielen wird.
Und erklärt ihr, daß Zagreb durch die Sava, den längsten Fluß Kroatiens, in zwei Hälften geteilt wird. In Donji Grad – die Unterstadt und Gornji Grad – die Oberstadt.
Eine Seilbahn verbindet beide Hälften – und genau diese besteigen wir jetzt, um von der Oberstadt, wo Onkel Branko wohnt, in die Unterstadt, das Zentrum von Zagreb, zu schweben.
Von der Entfernung her unnötig, aber Martha wäre sicher sehr enttäuscht gewesen, wenn wir die Bahn nicht benutzen würden. So wie sie jetzt strahlt.
Wir „landen“ auf dem Ban Jelacic Platz, der eine Art zentraler Platz und auch die Fußgängerzone in Zagreb ist. Drumherum befinden sich die meisten Geschäfte.
Zagreb sei eine sehr grüne Stadt, es gäbe viele Parks, fährt Onkel Branko fort. Der schöne botanische Garten sei allerdings jetzt im Winter geschlossen.
Ich lausche meinem Onkel, erlebe aber meine Heimatstadt selbst ganz neu.
Jede Ecke, jeder Winkel hat seine eigene Geschichte für mich. Scheint mir erzählen zu wollen, was alles so passiert ist, seit ich fort bin.
Immer wieder frage ich meinen Onkel nach Orten und Personen, die ich von früher kenne und er erzählt mir alles, was er weiß.
Ich habe soviel verpaßt.
Schönes wie Trauriges.
Da Zagreb viele Sehenswürdigkeiten zu bieten hat und vor allem Martha die Gelegenheit nutzen möchte, sehen wir uns die Kathedrale Sveti Stjepana, auch Stefansdom genannt, ebenso an wie das Kroatische Nationaltheater und das Volkskundemuseum.
Letzteres findet Martha besonders interessant, weil dort viel über die Geschichte des Kunsthandwerks in meinem Heimatland zu sehen ist.
Die Straßenbahn bringt uns rasch überall hin.
Zur Mittagszeit sind wir ein wenig müde und vor allem hungrig.
Martha fällt ein Café auf, das gleichzeitig auch eine Buchhandlung ist.
„Wie genial ist das denn? … Wollen wir hier einkehren?“
Ich sehe Onkel Branko an. Und er nickt.
Dann sehe ich meiner Frau tief in die Augen … und ziehe sie an mich.
„Was …was ist denn, Juri?“, fragt sie irritiert.
„Dieser Laden … meine Mutter hat hier gearbeitet.“, sage ich leise.
Es kann kein Zufall sein, daß Martha sich ausgerechnet diesen Laden für unsere Mittagspause ausgesucht hat.
„Wir können … woanders hingehen.“, meint sie vorsichtig.
„Nein. Nein … im Gegenteil.“, sage ich lächelnd.
Langsam und tief bewegt betrete ich mit ihr den Laden.
Damals, als Mama hier gearbeitet hat, war es noch kein Café.
Die alten Bücherregale mit den fahrbaren Leitern davor sind aber noch so, wie ich sie in Erinnerung habe.
Wir setzen uns an einen freien Tisch.
Ich bin sehr still und die anderen auch.
Leise studieren sie die Karte und geben mir Zeit für meine Erinnerungen, meine Gedanken …
Obwohl ich wollte, daß wir hier hineingehen, habe ich immer einen Kloß im Hals, wenn Onkel Branko mich ansieht.
Und ich will hier, vor lauter mir fremden Leuten, nicht heulen, meine Gefühle zeigen.
Aber nach der ersten Tasse Kaffee entspanne ich mich langsam und die Erinnerungen an Mama, die hier früher Bücher verkaufte, bringen mich nicht mehr so aus der Fassung.
„Hier könnte ich den ganzen Tag verbringen.“, schwärmt Martha von dem urigen Laden.
Ich beuge mich zu ihr rüber und küsse sie aus einem Anflug von Dankbarkeit für diese Bemerkung ganz zärtlich.
„Danke. Danke, daß es dich gibt.“
„Juri ...“, haucht sie gerührt.
Nachdem wir eine Kleinigkeit gegessen haben, fragt Sascha, ob es unseren Boxclub noch gibt.
„Hm ja, den Laden schon. Aber da ist jetzt ein modernes Fitneßstudio drin, vom alten Flair keine Spur mehr.“
„Schade. Aber konnten wir auch nicht erwarten, daß hier alles so geblieben ist, wie es war.“, seufzt Sascha.
„Wollt ihr trotzdem hin? Es gibt da eine alte Vitrine mit Fotos von damals. Auch von Mavrovic und Benes.“
Sascha und ich sehen uns an. Und nicken.
Und so führt uns unser Weg nach der Pause zu dem, was mal Boksacki Club Zagreb, der beste Boxclub der Welt – zumindest für uns – war …
„Schon enttäuschend, was?“, meint Sascha, als wir vor dem Gebäude des Clubs stehen.
Ich nicke.
Von außen machte unser Club nie was her. Und innen war er auch nicht nobel eingerichtet. Aber hier wurde guter Sport getrieben. Und es herrschte eine gute Atmosphäre auf der Grundlage von Respekt und Fairneß.
Hier gab es keine Unterschiede zwischen Kroaten und Serben.
Wahrscheinlich habe ich mich deshalb immer so wohl gefühlt hier.
Als wir den Club betreten – umschauen dürfen wir uns – erinnert uns auch hier nichts an damals.
Wir suchen die Vitrine auf, sehen uns die alten Fotos und Pokale an … und gehen wieder.

Inzwischen ist es Nachmittag und Onkel Branko fragt, ob ich vielleicht jetzt zu seinem Blumenladen möchte, ich wisse schon, der Kranz?
„Ja. Ja, laß uns gehen.“
Eine halbe Stunde später sind wir vier unterwegs in die Vorstadt, zum Friedhof von Zagreb …
 
Kapitel 48


Martha hält meine Hand und läßt sie auch nicht los, als wir die Straßenbahn verlassen.
Schweigend betreten wir den Friedhof.
Ich habe das Gefühl, daß meine Füße von Schritt zu Schritt schwerer werden.
Mir steht die Begegnung mit meinen Eltern bevor, wenn es auch nur eine geistige ist.
Sie werden mir so nah sei, wie lange nicht mehr.
Aber ich spüre auch die Nähe der Menschen, die mir hier und jetzt die Wichtigsten auf der Welt sind.
Ich mache diesen Gang nicht alleine.
Martha ist da, ich spüre ihre warme Hand so beruhigend in meiner.
Auch Saschas Nähe spüre ich, wenn er mich auch nicht berührt. Aber innerlich ist er ganz bei mir, das weiß ich.
Und natürlich Onkel Branko, der am besten nachempfinden kann, wie mir jetzt zumute ist.
Ich habe das Gefühl, daß wir eine Ewigkeit zu jenem Grab unterwegs sind.
Und dennoch stehe ich viel zu plötzlich davor.
Eine grasige, rechteckige Fläche, reifbedeckt. Von einer niedrigen, immergrünen Hecke eingefaßt.
Und an einer Ecke ein schlichter grauer Gedenkstein.
Mit Dutzenden von Namen.
Marija Julijana und Rafailo Adam – 15. Juni 1992
Der Gedenkstein und die Schrift verschwimmen vor meinen Augen.
Ich spüre, wie Onkel Branko mir den Kranz abnimmt und meine Hand in seine nimmt.
Und in diesem Moment mache ich eine Zeitreise zurück zu jenem Tag, an dem ich genau hier mit Onkel Branko stand … ein Junge, der nicht verstand, wie das Schicksal so grausam sein konnte, ihm die geliebten Eltern zu nehmen, gute Menschen, die nie jemandem ein Leid zugefügt hatten.
Ich sinke auf die Knie, vergrabe mein Gesicht in den Händen … und weine.
Mama, Papa, ich bin hier!
Juri, euer Sohn.
Ich bin heimgekehrt.

Es tut mir so leid, daß ich erst so spät begriffen habe, daß das einzige, was ihr euch in eurem letzten Moment gewünscht habt, war, daß ich glücklich werde.
Aber das bin ich jetzt.
Mit Martha, meiner Frau.
Mit Sascha, meinem besten Freund.
Und mit Onkel Branko.

Verzeiht mir meine Irrtümer.
Daß ich mich in Haß und Schuldgefühlen vergraben habe.
Das habe ich hinter mir gelassen.

Ich liebe euch so sehr!
Es sind stumme Worte, aber ich weiß, sie werden gehört.
Erst nach einer ganzen Weile merke ich, daß auch Martha und Onkel Branko knien, dicht bei mir. Sie haben ihre Arme um mich gelegt.
Und Sascha steht hinter mir, eine Hand auf meiner Schulter.
Plötzlich muß ich unter Tränen lächeln, weil ich mich wie ein Tierkind fühle, geborgen im Schutz seiner Herde.
Und ich sehe Mama und Papa vor mir, wie sie mir lächelnd zuwinken.
Ich nehme Abschied.
Als ich mich erhebe, fühle ich mich so leicht.
Martha, die mir stumm ein Taschentuch reicht, Onkel Branko, Sascha … sie alle sehen mich an, ernst, besorgt …
Aber ich lächle.
„Alles ist gut.“, sage ich.
Nehme Onkel Branko den Kranz aus der Hand und lehne ihn an den Grabstein.
Dann nehme ich Martha bei der Hand und wende mich zum Gehen.
Nicht ohne einen stummen Gruß für Mama und Papa.
Die liebevolle Erinnerung an sie nehme ich mit mir.
Aber den Schmerz lasse ich hier zurück.
Er sinkt unter die kühle Erde, ist nun vergraben. Für immer.


Schweigend treten wir den Rückweg an.
Bald schon spüren die anderen, daß es mir wirklich gut geht.
Entspannen sich, lächeln auch.
Es herrscht eine stille Einigkeit.
Als wir in Onkel Brankos Wohnung kommen, fragt er mich: „Soll ich für uns kochen, Juri? Djuvec?“
„Ja, gern. … Sascha könnte seine Ražnjići dazu machen.“, setze ich hinzu.
„Wenn’s gewünscht ist – sehr gern.“, meint Sascha sofort.
„Ein serbisch-kroatisches Freundschaftsessen also!“, lacht Onkel Branko. „Gut, Sascha und ich kochen. Und ihr zwei … nehmt euch mal ein Stündchen für euch. Nein, keine Widerrede!“ Resolut scheucht Onkel Branko mich und Martha aus der Küche.
„Wollen wir zusammen duschen?“, fragt Martha und ich merke, daß sie leicht zittert.
Die Kälte, die Anspannung … ja, eine schöne warme Dusche wird uns beiden jetzt sehr gut tun.
Und das tut sie wirklich.
Unter dem warmen Wasserstrahl schmiegen wir uns aneinander.
Und legen uns anschließend, in die weichen Badetücher gewickelt, kurz auf’s Bett …
Das nächste, was ich weiß, ist, daß meine Frau mich wachküßt und meint, das Essen sei fertig.
Ich war wohl ein wenig müde.
Rasch ziehe ich mich an und dann setzen wir uns zu Tisch.
„Für Juri – einmal ohne Petersilie.“, lächelt Onkel Branko, als er mir meinen Teller reicht.
Martha und Sascha lächeln – sie kennen die Geschichte ja.
Und Martha erzählt, wie ich für uns beide Djuvec gekocht habe – mit Petersilie.
Was bei Onkel Branko Heiterkeit ebenso wie Rührung auslöst.


Es wird ein wunderbarer Abend für uns vier … Stunden, die ich sicher nie vergessen werde.
Ich hole meinen Koffer herbei, den zu öffnen mir keine Qual mehr bereitet.
Und Onkel Branko nimmt zwei alte, oft benutzte Fotoalben aus einem Regal.
Zusammen mit Martha und Sascha unternehmen wir eine Reise durch meine Kindheit.
Es fließt so manche Träne bei mir.
Aber ebenso oft muß ich lachen, ist mir froh zumute bei Onkel Brankos Erzählungen über meine Eltern.
Dieser Abend ist wie eine heilsame Kur.
Ich fühle mich befreit.
Und unbeschreiblich glücklich.
Vor allem glücklich bei dem Gedanken, daß meine Eltern mich jetzt sehen – wie ich hier sitze, mit Martha im Arm, mit Onkel Branko und Sascha an meiner Seite, über vergilbte und doch lebendige Bilder gebeugt …
Als ich später mit Martha im Bett liege, fühle ich den tiefen Frieden in mir zum Greifen deutlich.


Der zweite Tag in Zagreb beginnt für mich mit einem Gefühl tiefen Glücks.

Behaglich strecke ich mich unter der warmen Decke aus, taste nach meiner Martha und kuschle mich zufrieden seufzend dicht an sie.
„Juri … alles okay?“
„Oh ja! … Ich liebe dich!“
„Ich dich auch.“
Sie dreht sich zu mir rum und wir schmusen eine ganze Weile.
Bis Marthas Magen knurrt.
Ich kichere und sie schimpft mich scherzhaft aus.
Wir beschließen, aufzustehen.
Leise tappen wir ins Bad, duschen gemeinsam, ziehen uns an und machen uns daran, das Frühstück herzurichten.
Wir sind gerade damit fertig, als erst Sascha und dann Onkel Branko in die Küche geschlurft kommen, angelockt vom Kaffeeduft.
„Seid ihr aus’m Bett gefallen?“, kichert Sascha.
Beide haben aber gar nichts dagegen, sich gleich an den gedeckten Tisch setzen zu können.
Während wir frühstücken, fragt Onkel Branko, was wir denn gerne heute so tun würden.
Da der für mich schwerste Gang nun schon hinter mir liegt, könnten wir es uns eigentlich einfach gutgehen lassen, Urlaub machen, denke ich.
Fragen tue ich aber: „Steht … das Haus eigentlich noch?“
Onkel Branko weiß sofort, daß ich mein Elternhaus meine.
„Nein, mein Junge. Schon seit Jahren nicht mehr. Und es lohnt nicht, den Ort aufzusuchen, wo es stand. Erspar dir den traurigen Anblick.“
Ich nicke. Nach Traurigkeit ist mir auch gar nicht.

„Aber wir können meine Weberei besuchen.“
So wie Onkel Branko mich anlächelt, bin ich sicher, daß seine Weberei immer noch die Weberei ist.
„Sehr gerne.“
„Und vielleicht noch mal in dieses Café gehen, das …“, beginnt Martha.
„Ja, auch das sehr gerne.“, sage ich lächelnd.


Zuerst besuchen wir allerdings den Dolac, um Onkel Brankos Vorräte aufzufüllen.
Er soll nach unserer Abreise ja nicht Hunger leiden, weil wir ihm die Schränke leergefuttert haben, wie Martha sich so schön ausdrückt.
Heute, am Samstag, ist auf dem Markt besonders viel los.
„Die roten Sonnenschirme sind wohl das Markenzeichen dieses Marktes, hm?“, fragt Martha.
„Ja, das sind sie. Von der Oberstadt aus sieht das lustig aus – wie ein großer Wald roter Pilze.“, lacht Onkel Branko.
Bald schon sind die Einkäufe erledigt, in Onkel Brankos Schränken verstaut und wir wieder unterwegs.
Erstmal bleiben wir in der Oberstadt.
Martha hat es das bunte Dach der St. Markus Kirche angetan.
Das ist auch wirklich ein schöner Anblick, vor allem, wenn wie jetzt die Sonne scheint.
Auch die schmiedeeisernen Laternen an vielen Hauswänden gefallen ihr und ganz entzückt ist sie, als sie erfährt, daß diese nicht elektrisch über eine automatische Schaltung aktiviert sondern von Hand angezündet werden.
Wir sehen uns auch das Steinerne Tor an, letzter Überrest der einstigen Stadtbefestigung aus dem dreizehnten Jahrhundert.
Bald ist es Mittag und wir suchen das Café auf, in dem meine Mutter gearbeitet hat.
Dort wartet Katja, Onkel Brankos Freundin, auf uns.
Sie ist eine kleine, sympathische Frau von Mitte Sechzig, Kunstschmiedin von Beruf und erzählt uns gleich vom Leben in Zagreb. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Slowene.
Wir essen kroatische Bohnensuppe, die uns wunderbar von innen wärmt.
„Heißt die nicht serbische Bohnensuppe?“, fragt Martha mich leise.
Doch Katja hat sie gehört.
„So wie sich die serbische und kroatische Sprache – und noch ein paar mehr – sehr ähneln, so ist das auch mit den landestypischen Gerichten. Fast alles gibt es auch überall – mit kleinen regionalen Abweichungen. Frag mich jetzt aber nicht, wo der Unterschied zwischen kroatischer und serbischer Bohnensuppe ist.“, lacht sie.
„Hauptsache, es ist keine Petersilie drin.“, brumme ich.
Jetzt lachen alle.


Unser Weg führt uns nun zu Onkel Brankos alter Weberei.
Hier hat sich kaum was verändert, die Zeit scheint hier stillgestanden zu haben.
Sicher, Onkel Branko benutzt den Webstuhl noch regelmäßig.
Und dennoch …
Martha möchte Onkel Branko gerne beim Weben sehen und er tut ihr gerne den Gefallen.
Ich hocke mich auf eine alte Kiste hinter ihm, wie damals.
So kann ich ihm über die Schulter sehen, zuschauen, wie das Schiffchen munter hin und her durch die Fäden pflügt …
„Ich kann gut verstehen, warum du dich hier so wohl gefühlt hast.“, meint Martha leise.
„Aber etwas fehlt.“
„Was denn, Onkel Branko?“
Er dreht sich zu Martha herum und ich sehe, wie glücklich es ihn macht, daß sie ihn mit ‚Onkel Branko‘ angeredet hat.
„Juris Nüsseknacken.“, lacht er.
Stimmt. Und ich habe auch gar keine bei mir.
Wir bleiben eine ganze Weile in der Weberei und lauschen Onkel Brankos Erzählungen von früher, aus seiner eigenen Kindheit.


Als wir nach draußen kommen, ist die Sonne verschwunden und es regnet. Es ist sehr ungemütlich und so beschließen wir, nach Hause zu gehen.
Da Katja für uns Kuchen gebacken hat, machen wir einen kleinen Umweg an ihrer Wohnung vorbei.
Und dann sitzen wir in Onkel Brankos gemütlichem Wohnzimmer.
Martha fällt ein, daß sie ja unser Hochzeitsalbum und auch den Film von unserer Trauung dabei hat.
Onkel Branko schimpft scherzhaft mit ihr, wie sie ihm das so lange habe vorenthalten können.
„Entschuldigung, Onkel Branko.“, murmelt sie und flitzt ins Schlafzimmer hinüber, um das Genannte zu holen.


Es ist wieder eine ganz eigene Situation.
Martha sitzt da, mit dem Fotoalbum auf den Knien, rechts neben ihr Onkel Branko, einen Arm um ihre Schultern gelegt und links Katja.
Und Sascha und ich sitzen ihnen gegenüber und beobachten die drei lächelnd.
„Unsere Familie wächst und wächst, was?“, meint Sascha.
Ich nicke. „Und bald wird sie wieder wachsen … wenn euer Baby da ist.“
„Das gehört ja jetzt schon dazu.“
„Ja, natürlich. Sorry.“
„Schon gut.“
„Du, äh … bist sicher froh, daß es morgen wieder nach Hause geht, hm? Denise fehlt dir?“
Wenn ich mir vorstelle, drei Tage ohne Martha zu sein …
„Ja, natürlich fehlt sie mir. Zweimal am Tag kurz zu telefonieren ist nicht grade viel. Aber … das hier ist mir wichtig. Du bist mir wichtig. Ich bereue es nicht, mitgekommen zu sein.“
„Danke.“
„Da wär noch was …“
„Raus damit.“
„Mein Vater … auch er liegt auf diesem Friedhof.“
Das hätte ich mir eigentlich denken müssen.
„Ich würde ihn … gerne noch besuchen … bevor wir abreisen.“
„Ich komme mit.“
„Dank dir.“
Selbstverständlich werde ich ihm genauso beistehen, wie er mir.

Und so fahren wir am frühen Abend noch einmal in die Vorstadt hinaus – Onkel Branko, Martha, Sascha und ich – nachdem wir Katja nach Hause gebracht haben.
Sascha besorgt einen schlichten Kranz in der kleinen Friedhofsgärtnerei.
Und Martha und ich kaufen eine schöne Grabkerze.
Ebenso Onkel Branko.
Dann stehen wir vor dem Grab.
Gedenken jeder still des Menschen, der hier seine letzte Ruhestatt gefunden hat.
Und der so schlecht nicht war, wie ich lange Zeit gedacht habe.
Auch wenn Sascha es nicht ausspricht, weiß ich doch, wie viel es ihm bedeutet, daß Onkel Branko und ich hier stehen – Angehörige der Menschen, die sein Vater tötete.
Nicht vergessen, aber verzeihen.
Irgendwann dreht sich Sascha zu uns um, seine Augen sind feucht.
Langsam verlassen wir den Friedhof.


Unser letzter Abend in Zagreb bricht an.
Wir essen bei Ilija, der uns zu Ehren ein mehrgängiges Menü zubereiten läßt.
In dem Bewußtsein, daß wir morgen Vormittag abreisen werden, genießen wir diese Stunden umso mehr.
Ilija setzt sich nach dem Essen eine Weile zu uns und läßt sich erzählen, was wir gemeinsam unternommen haben.
Dabei spart Onkel Branko alles Persönliche aus.
Aber Ilija freut sich sehr, daß Martha seine Heimatstadt sehr gefällt.
„Ja, wer Zagreb einmal in sein Herz geschlossen hat, den läßt es nicht mehr los. Du wirst wiederkommen, du wirst gar nicht anders können.“, sagt er bestimmt.
Martha und ich lächeln uns an … uns verbinden nun soviele bedeutsame, emotionale Momente mit dieser Stadt, daß wir wiederkommen würden, auch wenn Zagreb nicht den von Ilija gemeinten gewissen Zauber hätte.
Und da wäre ja auch immer noch Onkel Branko.
Es ist nicht nötig, ihm zu versprechen, daß wir ihn so oft es möglich ist, besuchen werden.
Wir sitzen bis in die Nacht in diesem gemütlichen Bistro.
Trinken Sljivovic, von Marthas fröhlichem „Ziveli!“ begleitet.
Und sinken dann müde, aber sehr glücklich und zufrieden in Morpheus‘ Arme.


Am nächsten Morgen sind wir alle früh auf.
Getrieben wohl von dem Wunsch, noch möglichst viel Zeit miteinander zu verbringen.
Wir frühstücken lange und ausgiebig.
Als Martha schließlich vom Tisch aufsteht, sieht sie Onkel Branko traurig an und macht sich seufzend ans Packen.
„Sie hat dich sehr ins Herz geschlossen.“, sage ich zu meinem Onkel.
„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ihr werdet mir fehlen. Alle.“
Er sieht zu Sascha hinüber, der auch nicht gerade glücklich wirkt, obwohl es ihn doch zu seiner Denise zieht.
Aber Zagreb ist auch seine Heimat.
Und Onkel Branko läßt ihn fühlen, daß er zu unserer Familie dazugehört.
Klar, daß es nun auch ihm nicht leicht fällt, zu gehen.
„Nun aber Schluß mit den traurigen Gesichtern!“, meint Onkel Branko schließlich energisch. „So möchte ich euch nicht in Erinnerung behalten. Und außerdem sehen wir uns ja jetzt wohl regelmäßig, oder?“
Wir nicken alle.
Martha, wie sie nun mal ist, legt ihre Arme um Onkel Brankos Hals. Und er drückt sie fest an sich.


Ein letzter Spaziergang durch die Zagreber Altstadt, ein letzter Kaffee in Mamas Buchladen – dann ist es Zeit, unsere Sachen zu holen.
Ich lasse den Blick durch Onkel Brankos Wohnung schweifen, präge mir alles gut ein.
Dann fährt Onkel Branko uns zum Bahnhof.
„Ich hasse Abschiede.“, murmelt Sascha, als wir auf dem zugigen Bahnsteig stehen.
Und meine sonst so redselige Martha sagt gar nichts mehr.
Als der Zug einrollt, umarmt sie Onkel Branko und schnuffelt: „Ich würde dich am liebsten mitnehmen. Aber du gehörst hierher. Und … wenn du hier bist … haben wir einen Grund mehr, diese schöne Stadt wieder zu besuchen. Mach’s gut, Onkel Branko! Paß auf dich auf! Und grüß Katja ganz lieb!“
Auch Sascha drückt meinen Onkel lange zum Abschied.
Dann bin ich an der Reihe.
Ich sehe meinem Onkel in die Augen.
Und kriege keinen Ton raus.
Onkel Branko scheint es genauso zu gehen.
Wir umarmen uns.
Bis Martha mich anstupst und mahnt, der Zug würde gleich abfahren.
Onkel Branko küßt mich auf beide Wangen und schiebt mich dann resolut zur Waggontür, wo Martha mir ihre Hand entgegenstreckt.
Ich folge ihr in unser Abteil, wo Sascha auf uns wartet und da rollt der Zug auch schon an.
Wir winken Onkel Branko aus dem Fenster zu, bis wir ihn nicht mehr sehen können.
Auf ein baldiges Wiedersehen, lieber, guter Onkel Branko!